Live Fast, Play Dirty, Get Naked
plötzlich, als würden alle Gefühle, die ich an diesem Abend erlebt hatte, plötzlich als Cocktail einer verschwommenen Verwirrung in meinem Bauch herumwirbelten und Übelkeit erzeugen. Und als ich auf die Bühne stieg und meinen Bass anschloss, war ich ganz sicher, mich übergeben zu müssen.
»Ladies and gentlemen«, verkündete eine Stimme über die Anlage. »Beifall für die Band … Naked!«
6
Die Raumbeleuchtung erlosch und einen Moment lang summte alles in dunklem Schweigen. Dann ging ein Scheinwerfer an und erfasste Curtis vorn auf der Bühne, und als er wie ein Irrer in die Luft sprang und die ersten vier Akkorde von Naked herausdrosch, wusste ich plötzlich, dass alles gut werden würde. Der Sound war elektrisierend, atemberaubend, die Akkorde krachten und peitschten durch die Luft wie ein gewaltiger Schuss Adrenalin und dann begann ich zu spielen – fiel haargenau im selben Moment ein wie Kenny und Stan – und die Bühne erstrahlte plötzlich in grellem Licht. Es war so ein grandioses Gefühl, dass ich dachte, jeden Moment würde mein Herz platzen. Der Sound war so fantastisch, dass ich es kaum glauben konnte. Wir spielten so laut, so schnell, so dicht … wir waren so präsent … es war einfach unfassbar. Der Maschinengewehr-Beat von Stans Schlagzeug, der krachende Rhythmus von Kennys Gitarre, das wummernde Stampfen von meinem Bass … und über allem der kreischende Wahnsinn von Curtis’ Gitarre und der hypnotisierende Anblick, wie er sich wand und krümmte und auf der Bühne herumwirbelte und taumelte …
Er wirkte so weggetreten, so verloren und im Wahn, dass ich für eine Sekunde Angst hatte, er würde es nicht rechtzeitig zum Mikro schaffen für die erste Strophe, aber diese Sorge war unbegründet. Im allerletzten Moment wirbelte erherum, stürzte quer über die Bühne zum Mikrofon und begann in perfektem Timing mit der ersten Strophe. Er sang, als hinge sein Leben davon ab – er spie die Worte voller Hass und Leidenschaft heraus, die Augen geschlossen, den Hals gereckt –, und obwohl ich ihn schon so oft hatte singen hören, war ich doch sprachlos von der geradezu brutalen Schönheit seiner Stimme. Die Worte brachen aus seinem Mund, als würden sie ihm aus dem Herzen gerissen – gewaltsam, blutend:
IDLE BLACK EYES
AND DRUG-YELLOWED SKIN
THE DREAM FLOWERS DIE
ON HER COLD NAKED SIN …
Seine Leidenschaft war ansteckend, und als wir alle zusammen den Refrain skandierten –
I’M NAKED!
YOU’RE NAKED!
WE’RE NAKED!
… NAKED!
– klangen wir wie ein Haufen durchgeknallter Dämonen.
Es war fantastisch.
Der Song dauerte nur etwa drei Minuten, und sobald wir fertig waren – mit einem letzten krachenden Akkord und einer bewusst kreischenden Rückkopplung von Curtis’ Gitarre –, gingen wir sofort in die nächste Nummer über, einen Song mit dem Titel Crack Up . Es war wieder ein sehr kurzes, sehr schnelles Stück, ganz ähnlich im Stil wie Naked ,aber mit einem etwas abgehackteren Rhythmus. Es war vielleicht der Song, den ich von allen am wenigsten mochte, doch den Zuhörern schien er zu gefallen, und als wir den letzten Refrain gespielt und mit dem Intro zu Heaven Hill begonnen hatten, tanzten viele Leute vorn vor der Bühne.
Meiner Meinung nach war Heaven Hill mit Abstand der beste Song, den Curtis je geschrieben hatte. Er war so eindringlich, dass ich jedes Mal zitterte, wenn wir ihn spielten, und ein komisches Flattern im Herzen spürte. Es war ein etwas ungewöhnlicher Song, weil er nicht dem typischen Aufbau von Strophe/Refrain/Strophe/Refrain folgte, sondern aus drei getrennten, aber miteinander verflochtenen Teilen bestand. Sie steigerten sich zu einem wirbelnden Schlussrefrain, der alles in einem Ausbruch vielschichtiger Melodien zusammenführte. Curtis hatte mir bei der Basslinie geholfen und mir eine simple Akkordtechnik gezeigt, die dem Bass einen viel tieferen und wärmeren Klang gab. Ich liebte diesen Sound und spielte Heaven Hill auch deshalb so gern, weil Curtis und ich in dem Song zusammen sangen – er die Lead-Stimme, ich die Harmonie-Stimme – und weil er an einer bestimmten Stelle des Songs immer zu mir rüberschaute mit einem Blick, der sagte: Ist das nicht toll? , und ich in schweigender Übereinstimmung zurücklächelte.
Es war unser ganz spezieller kleiner Moment.
Und an diesem Abend, als wir zusammen den Schlussrefrain sangen –
HEAVEN HILL, REMEMBER
HEAVEN HILL, REMEMBER
HEAVEN HILL …
– und Curtis zu mir herüberschaute mit einem
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