Lob der Torheit
törichter sein, »als aus den nichtigsten Gründen einen Streit anzuheben, aus dem der eine wie der andere stets größeren Schaden als Vorteil heimträgt?« Was anderes als die Weisheit war daran schuld, dass Sokrates den Schierlingsbecher trinken musste? – Alle Berufe und Stände, und hierunter besonders die Geistlichkeit, müssen in dieser Weise das zweifelhafte Lob der Rednerin erleiden. Bei den theologisch gebildeten Klerikern kritisiert Erasmus insbesondere, dass sie sich Weisheit anmaßten. Des Weiteren geht die Gesellschaftssatire auch auf Kosten der Mönche, Inquisitoren, Kardinäle und Päpste (Letztere führten Kriege nur zu ihrem eigenen Ruhm). Die (als Lob getarnte) Kritik gipfelt in dem Gedanken: Wie könnte eine solche Kirche existieren, wenn es die Torheit nicht gäbe und die Menschheit weniger simpel und leichtgläubig wäre?
Gegen Ende hebt sich die Rede der Stultitia wieder auf ein theoretisierendes Niveau. Die Sprecherin erinnert – zwischen Wahnsinn und Torheit macht Erasmus keinen Unterschied – an die Raserei der Apostel, an die Raserei der Liebenden bei Platon und fragt, ob nicht erst sie es sei, durch die der Menschengeist alle Fesseln abwirft und sich zu reiner Freiheit erhebt.
Da gerade die Torheit es selbst ist, die dies alles ausspricht, geraten auch die tiefsinnigsten Gedanken des Werks auf eine eigentümliche dialektische Weise ins Zwielicht. Wenn die Torheit die Torheit preist, ist bald nicht mehr klar, wo Ja zu Nein wird. Zur Begründung seiner Satire erinnert Erasmus ausdrücklich an das Horaz’sche »ridendo dicere verum« (»unter Lachen die Wahrheit sagen«). Zu Recht hat die Forschung auf den legitimierten Freiraum des Narren innerhalb des Karnevals hingewiesen, der sich freizügig über die Fehler anderer lustig machen darf. Als wichtigste texttypologische Vorläufer dieses ›karnevalesken‹ Werkes sind der pseudohomerische
Froschmäusekrieg
, Lukians
Lob der Fliege
und Senecas
Verkürbissung des Claudius
anzusehen.
Thomas Haye/ KLL
Aus: Kindlers Literatur Lexikon. 3 ., völlig neu bearbeitete Auflage. Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold ( ISBN 978 - 3 - 476 - 04000 - 8 ). – © der deutschsprachigen Originalausgabe 2009 J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag, Stuttgart (in Lizenz der Kindler Verlag GmbH).
Aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur:
Erasmus von Rotterdam
(nannte sich seit 1496 Erasmus Desiderius)
Geb. 28 . 10 . 1466 oder [wahrscheinlich] 1469 in Rotterdam;
gest. 12 . 7 . 1536 in Basel
Wegen seiner frühaufklärerischen und toleranten Philosophie gilt Erasmus von Rotterdam als der »größte Humanist Europas«. Doch sind seine Texte auch unter literarischen Gesichtspunkten bemerkenswert. Außer theologischen Traktaten und pädagogischen Schriften schrieb E. Gedichte, Briefe und Pamphlete; er übersetzte und edierte weltliche und christliche Werke aus Antike und Mittelalter. E. publizierte ausschließlich in Lateinisch, setzte sich aber von Beginn an sehr dafür ein, dass seine Texte so bald wie möglich in Volkssprachen übersetzt wurden. Wegen seines brillanten Stils war er berühmt, wegen seiner stupenden Gelehrsamkeit bewundert und wegen seines beißenden Spotts gefürchtet. Sein unstetes Leben führte ihn durch halb Europa: »Dort ist meine Heimat, wo ich meine Bibliothek habe.«
E. wurde als illegitimer Sohn eines Priesters und einer Arzttochter geboren, ein Makel, der ihn zeitlebens nicht loslassen sollte. Bereits in frühester Jugend schrieb er – antike Muster imitierend – lateinische Gedichte von erstaunlicher Stilsicherheit (
Carmina selecta – Auswahl aus den Gedichten
, 1975 ). Nach seinem Eintritt in das Augustinerkloster Steyn bei Gouda erschloss er das Programm der »bonae literae« (Wiederbelebung der Reinheit und Raffinesse des literarischen Lateins) für sich und begann eine lebhafte Korrespondenz mit den großen Gelehrten, den weltlichen und geistlichen Fürsten sowie den wichtigsten Theologen seiner Zeit. Zu seinen Briefpartnern gehörten Kaiser und Könige, Päpste und Kardinäle sowie die bekanntesten Vertreter des europäischen Geisteslebens: Luther, Zwingli, Melanchthon, Paracelsus, Ulrich von Hutten und Thomas Morus. Zu Letzterem, den E. während seines ersten Aufenthalts in England um 1500 kennenlernte, entwickelte sich eine innige Freundschaft. Die – teilweise von E. selbst schon publizierten – Briefwechsel bilden eine reichhaltige Geschichtsquelle der Epoche (
Erasmus
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