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Lobgesang

Titel: Lobgesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Scholes
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wieder spürte er, wie etwas in ihm zum Leben erwachte. Wohin? Er hörte, wie seine Stimme die Frage krächzte.
    Ria streichelte ihm übers Haar. »An einen Ort, an dem sie neue Wege beschreiten werden.«
    Alte Wege , dachte er. Einen winzigen Augenblick lang war Vlad Li Tam wieder da … lange genug, um dieses Wissen zu bewahren.
    Dann erschlaffte er in seinen Fesseln. Starke Hände hielten ihn aufrecht, während Finger sich an den Schnallen zu schaffen machten. Die Männer in Roben hoben ihn auf und trugen ihn die zweiundsiebzig Stufen zu seinem Zimmer zurück, wo sie ihn auf dem Boden liegen ließen.
    Ria stieg über ihn hinweg, während die Tür zufiel und der Schlüssel umgedreht wurde. Sie ging zu dem kleinen Esstisch, der mit exotischen Nahrungsmitteln überladen war, und setzte sich. Er konnte sich nicht genau daran erinnern, wann sie damit angefangen hatte, ihr Abendmahl in seinem Zimmer einzunehmen – die Tage verwischten zu einem purpurroten Nebel. Vlad
schloss die Augen und versuchte, die Aromen, die der Tisch verströmte, in sich einzusaugen, aber sie vermochten den Blutgeruch nicht zu verdrängen. Zusammengerollt lag er auf dem Boden, schaukelte vor und zurück und versuchte, sich zu konzentrieren.
    »Ich denke«, sagte Ria, »morgen bist du bereit für deine ersten Schnitte.«
    Er spürte, wie ein Stöhnen in ihm anschwoll, und erkannte, dass es Sehnsucht war. Wenn die Klingen sich an mir zu schaffen machen, werden sie nicht anderswo sein. Aber er wusste, dass das eine falsche Hoffnung war. Er wusste, dass seine Kinder, Enkel und Urenkel früher oder später alle unters Messer geraten würden. Manche würden dabei sterben, andere das Zeichen der Hexenkönige über ihrem Herzen empfangen.
    Er hörte, wie Wein eingeschenkt wurde; Fleisch wurde zerteilt, ein Teller beladen. »Die Köche haben sich selbst übertroffen. Bist du sicher, dass du dich mir nicht anschließen möchtest, Vlad?«
    Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal Hunger verspürt hatte. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal gegessen hatte, obwohl er noch wusste, dass er es nicht bei sich behalten hatte können. Der Teil von ihm, der beobachtete und abwartete, tief unter der Oberfläche vergraben, wusste, dass sich das bald ändern musste. Er sagte nichts.
    Sie aß langsam und unterhielt sich dabei mit ihm. »Heute war ein guter Tag, obwohl ich überrascht bin. Ich hätte gedacht, die Jüngeren würden mehr aushalten.«
    Er schloss die Augen vor der Welle der Übelkeit, die ihn überkam. Der Geruch ihres Blutes war überall. Und wenn die Frau nicht da gewesen wäre und ihm mit ihrer Stimme und Anwesenheit einen Anker geboten hätte, hätte ihn das Geräusch ihrer Schreie bis an jenen dunklen, nebligen Ort getrieben, von dem er nicht wusste, ob er je wieder zurückkehren würde.
    Wieder sagte er nichts. Sie aß weiter. »Mal wird bald zurückkommen
und noch mehr von ihnen mitbringen«, sagte sie. »Unser Bundrabe späht sie bereits aus.«
    Schließlich fand er Worte und krümmte den Rücken, damit er vom Boden zu ihr aufblicken und ihr in die Augen sehen konnte. »Wie viele denn noch?«
    Ihr Gelächter war ein Requiem. »Alle.«
    Alle.
    Sie war noch nicht fertig. »Abgesehen von der Großen Mutter und dem Kind der Verheißung natürlich.« Sie blickte ihn an, ihre Gabel auf halbem Weg zwischen Teller und Mund. »Aber am Ende wird diese entweihte Sippschaft wiederhergestellt sein.«
    Große Mutter. Kind der Verheißung. Er wollte eine Frage stellen, ließ es aber sein. Stattdessen behielt er sie ebenso wie die anderen Informationsfetzen bei sich.
    Danach aß sie schweigend weiter, und als sie fertig war, beugte sie sich über ihn und küsste ihn auf die Stirn. »Ich sehe dich morgen Vormittag, Vlad. Ruh dich aus. Versuche, ein wenig zu essen. Morgen löse ich dein Blut.«
    Ihre Berührung stieß ihn ab, aber er hatte nicht die Kraft, nach ihr zu schlagen, obwohl er es wollte. Sie runzelte die Stirn, richtete sich auf und ging zur Tür. Leise klopfte sie und wartete, bis die Männer sie hinausließen.
    Nachdem sie gegangen war, kehrte Vlad Li Tam zurück. Ganz langsam bemächtigte er sich seiner selbst und raffte die Fetzen eines gebrochenen Menschen um sich zusammen, wie eine alte Frau ein Umhängetuch um ihre Schultern rafft. Er probierte seine Hände und Füße aus, bewegte den Mund und rollte mit den Augen. Dann erhob er sich zitternd und ging zu dem Tisch. Er achtete nicht auf den Wein und die

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