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Lobgesang

Titel: Lobgesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Scholes
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und drückte sein Ohr noch fester an das Eisen. Die Zahlen waren schwer zu finden, aber sie waren da. Vier der sechs Ziffern des Schlosses hatte er bereits entschlüsselt. Und nun fanden seine Finger die fünfte und stellten sie ein. Tief im Inneren des eisernen Deckels hörte er das Klacken und Ticken von Rädern, die einen Bolzen zur Seite schoben.
    Neb dachte an die Worte des Metallmannes. Die letzte Ziffer ist der erste Tag der Ankunft des Heimatsuchers.
    Er kannte sie, ohne auf das Lied zu hören, aber er hatte sie sich trotzdem bis zuletzt aufgehoben. Bei manchen Rufelloschlössern musste man die Zahlen der Reihe nach einstellen.
    Neb biss sich auf die Unterlippe und rechnete das numerische Datum seiner Geburt, basierend auf dem whymerischen Kalender, aus, dann stellte er die letzte Scheibe auf die entsprechende Ziffer. Als er fertig war, drang kein Laut von unten herauf – keine Zahnräder, kein mahlendes Weitergleiten des Bolzens. Mit gerunzelter Stirn rollte er sich auf den Rücken.
    Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Es war Tag gewesen, als er zum letzten Mal auf seine Umgebung geachtet hatte. Nun war die Nacht angebrochen, und der Himmel war klar. Sterne pulsierten über ihm, und ihr kaltes Licht warf ein unheimliches Leuchten über die Berge, die ihn umgaben.

    Es hatte nicht funktioniert. Aber weshalb?
    Er versuchte es noch einmal, aber das Ergebnis blieb dasselbe.
    Und dann ging der Mond auf, und das Lied erreichte seinen Höhepunkt. Neb starrte ihn an, wie er schwerfällig am Horizont hing, und fragte sich, wie groß er wohl war. Er konnte die Linien erkennen, wo das Land endete und das Meer begann, und wenn er die Augen zusammenkniff, konnte er sogar den menschengeschaffenen Strich sehen, den Turm des Mondhexers, verloren und zurückgelassen auf dieser vergifteten und leeren Welt, die über ihnen aufging, um sie an jenen längst vergangenen Krieg zu erinnern, in dem die letzten der Jüngeren Götter getötet worden waren, die sich furchtsam auf diesen blaugrünen Felsen zurückgezogen hatten.
    Neb zuckte zusammen. Natürlich.
    Endlich erkannte er seinen Fehler und rechnete die Zahl noch einmal neu aus, nicht mit dem whymerischen Kalender, sondern mit einem älteren, der nicht mehr in Gebrauch war, der die Zeit anders maß als jener des P’Andro Whym und seiner Jünger, die sich versammelt hatten, um das Licht und die Waisen einer zerbrochenen Welt zu hüten.
    Als er sein Geburtsdatum in die uralte Numerologie des Mondkalenders der Hexenkönige übertragen hatte, hörte er die Bewegung der mahlenden Zahnräder, während der letzte Bolzen sich löste.
    Neb rollte sich zur Seite und kauerte sich hin, um die entriegelte Falltür im Boden zu betrachten. Er packte ihren Rand mit den Fingern und sammelte seine ganze Kraft, um den Eisendeckel aufzustemmen. Mit einem leisen Ächzen schwangen die geölten Angeln auf. Er blickte noch einmal zu Renard hinüber, entschied sich aber dagegen, ihn zu wecken.
    Dieser Ort ist geschaffen worden, damit ich ihn finde. Er wusste, dass das stimmte, so wie er wusste, dass sein Vater daran beteiligt gewesen war. Schon bald würde Neb herausfinden, wie weit
genau das Wissen seines Vaters gereicht hatte und wie gut er ihn auf diesen Tag vorbereitet hatte.
    Eine eiserne Leiter, an die Seitenwand des steinernen Brunnenschachts geschraubt, führte vor ihm in die Tiefe, und Neb kletterte, in das blaugrüne Licht des Mondes gehüllt, hinab in die Erde. Er kletterte, bis ihn die Dunkelheit verschluckte, aber er fürchtete sich nicht. Das Lied war bei ihm und um ihn herum; es wiegte ihn, und er wusste, dass es unter ihm wartete.
    Er war nicht sicher, wie lange er schon geklettert war, als seine Füße auf den festen Boden des Brunnens stießen. Er blickte auf und sah den Mond in der runden Öffnung über ihm.
    Es war zu dunkel, um die kleine Kiste mit den Augen zu erkennen, aber sein Ohr wusste, wo sie sich befand, und er ging zu ihr. Mit tastenden Fingern öffnete er sie und nahm vorsichtig einen kühlen, glatten Metallgegenstand heraus. Blechern drang das Lied daraus hervor, als käme es von weit her. Neb hob ihn hoch und hielt ihn vor den Hintergrund des Mondlichts am Himmel. Das Lied wurde lauter, und unter seinen Klängen hörte Neb das Quaken von Fröschen und das ferne Rauschen eines Baches.
    Unter den Fingern spürte er auf dem halbmondförmigen Gegenstand die Linien von Kontinenten und Bergen. Er hielt ihn sich ans Ohr und spürte, wie behaglich er sich dort

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