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Lobgesang

Titel: Lobgesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Scholes
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zumindest jene, in denen er sich wiederfand, waren düster geworden – Bilder eines blutigen Walls, eines krummen und dornigen Weidenthrons auf einer unglaublich steilen Bergspitze, auf die Winters zurannte, verfolgt von Sümpflern in Harnischen aus Wolfshäuten. Dann wechselte die Szenerie plötzlich, und Winters rannte durch die Straßen von Windwir, während Wölfe in schwarze Talare gewickelte Schafe abschlachteten.
    Neb hielt sich zurück und drückte sich am Rande des Alptraums herum, bis Winters zu schreien anfing.
    »Ich bin hier«, rief er ihr zu, und sie hörte auf zu laufen.

    »Noch ein Traum«, sagte sie und blickte zu ihm auf.
    Er nickte. »Ja. Wir werden morgen Nachmittag das Tor erreichen. «
    »Wir lagern im Gräsernen Meer«, erwiderte sie. In diesem Traum wirkte sie kleiner, als wäre ein Teil von ihr verwelkt, als Hanric gestorben war. Weitere Bilder flackerten auf: marschierende Armeen. Wütende Feuersbrünste. Leichen im Fluss. »Ich habe Angst, Neb.«
    Er nahm ihre Hand. »Ich auch.«
    Einen Augenblick lang waren sie wieder Kinder. Und dann fingen die Vögel an zu kreischen, und der Lärm vertrieb Neb stolpernd aus ihrem Traum und zurück in seinen eigenen.
    Der Sonnenaufgang über den Mahlenden Ödlanden war von schrecklicher Herrlichkeit.
    Das Licht brach sich wie tropfendes Blut in Bergen aus Glas, die der Wind geformt hatte. Einst hatte das Glas auf der Oberfläche der Alten Welt gebrodelt und gekocht, wie Neb wusste, nachdem Xhum Y’Zirs Todeschöre in alle Städte aller Staaten der Menschen ausgeschwärmt waren. Über ihm pulsierten die Sterne um einen blaugrünen, untergehenden Mond.
    Neb stand inmitten der Berge und verglich sie mit der einzigen Kostprobe, die er von diesem Wahnsinn erhalten hatte: Windwir. So schrecklich es auch gewesen war, er konnte sich den Sturm der Gewalt nicht vorstellen, der diese leblose Ödnis zu Glas und Schlacke geschleift hatte.
    Bruder Hebda, Nebs Vater, legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Früher haben die Menschen das Meer gesehen und Ehrfurcht empfunden«, sagte der Tote. »Ich habe oft daran gedacht, wenn ich hierhergekommen bin.«
    Neb blickte seinen Vater an. Er sah jünger aus, gesünder als bei ihrem letzten Treffen. »Ich habe noch nie etwas Vergleichbares gesehen«, sagte er.
    Bruder Hebda zwinkerte. »Das wirst du noch, Neb.«

    Sie waren auf einer Ausgrabung, und die Archäologen arbeiteten emsig, nur dass sich unter ihren schwarzen Grabungstalaren die schlanken Metallglieder von Mechoservitoren befanden. Ihre Augen waren gelb, und die Lider flatterten wie Motten, wenn sie in die morgendliche Düsternis blinzelten. Sie flüsterten ein Gebet, während sie gruben.
    »Nichts von alldem ergibt einen Sinn«, sagte Neb mit leiser Stimme.
    »Es ist ein Traum«, erinnerte ihn sein Vater. »In Träumen ergeben die Dinge nicht immer einen Sinn.« Sein Gesicht wurde ernst. »Es stehen weitere dunkle Zeiten bevor, Neb.«
    Bruder Hebda ging zu dem Loch, das sie aushoben, und stellte sich daneben. »Gib Acht auf Renard«, riet er, und Neb konnte nicht sagen, ob es eine Warnung oder eine Bitte war. Er öffnete den Mund, um ihn danach zu fragen, und schloss ihn wieder, als Bruder Hebda in das Loch sprang.
    Neb wachte auf und rollte sich auf den Rücken. Das letzte Mal, dass er Bruder Hebda in seinen Träumen begegnet war, lag Monate zurück. Es war im Lager von Windwir gewesen, sein Vater hatte ihn vor der Armee der Sümpfler gewarnt und Neb gesagt, dass er Petronus zum Papst ausrufen würde. Und er hatte ihm gesagt, dass der alte Papst ihm das Herz brechen würde – wie er es auch getan hatte, indem er Neb vor der Gerichtsverhandlung vom Orden ausgeschlossen und damit verhindert hatte, dass er seine Rache an Sethbert nahm, als Petronus nach einem freiwilligen Henker aus den Reihen des Ordens gerufen hatte. Neb war wochenlang darüber zornig gewesen, aber inzwischen, da Monate vergangen waren, verstand er Petronus’ Absichten und war stattdessen traurig, dass der alte Mann es vorgezogen hatte, Neb zu täuschen und zurückzuweisen, anstatt ein vernünftiges Gespräch mit ihm zu führen, wie es Freunde getan hätten. Oder Vater und Sohn.
    Gib Acht auf Renard.

    Die Worte wiederholten sich immer wieder, und schließlich wurde Neb klar, dass der Schlaf nicht wiederkommen würde, sosehr er es sich auch wünschte. Er schlüpfte aus seiner Bettrolle und zog seine Stiefel an. Dann krabbelte er aus dem Zelt, zitternd vor Kälte hockte er da, bis sich seine

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