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Lobgesang

Titel: Lobgesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Scholes
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Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Ein leise gepfiffener Gruß der Wache trieb über den alten Hain und die darin versteckten niedrigen Zelte heran. Neb erwiderte den Pfiff und suchte sich einen Weg durch die wie in einem Muster verstreuten Flecken von gefrorenem Schnee. Bernsteinfarbene Lichter flackerten auf, und Neb erinnerte sich plötzlich an die Gespenster aus seinem Traum, an das Heben und Fallen der Pickel und Schaufeln, begleitet von dem rhythmischen Pumpen der Blasebälge in den gebeugten Körpern, während aus den in die rauen Androfranziner-Talare hineingeschnittenen Löchern Dampfwolken in die frühmorgendliche Luft entwichen.
    »Guten Morgen, Isaak«, sagte er mit gesenkter Stimme.
    Isaak blinzelte noch einmal. »Guten Morgen, Neb.« Seine metallene Stimme war näselnd, beinahe ein Pfeifen.
    Neb ging zu dem Metallmann hinüber, der unter einer Kiefer kauernd am Boden saß. »Was berechnest du?«
    »Ich führe noch einmal eine komplette Durchsuchung meiner Gedächtnisregister nach jeglichen Hinweisen auf den Begriff ›Sanctorum Lux‹ durch«, sagte er. »Ich suche auch nach Querverweisen in Zusammenhang mit meinem Schöpfer, Erzmaschinist Charles.«
    Neb ging neben dem Mechoservitor in die Hocke. Er hatte als Junge viele Tage in der Bibliothek verbracht, und sein Leben hatte zum Großteil aus Büchern bestanden, bis zu jenem Tag, an dem die Große Bibliothek von Windwir verbrannt war. Bevor Aedric ihn erwähnte, hatte er den Begriff ›Sanctorum Lux‹ noch nie gehört, was ihn aber nicht sonderlich überraschte, schließlich war es eine riesige Bibliothek gewesen. Aber es verblüffte ihn, dass auch Isaak ihn noch nicht gehört hatte. Bisher waren
sie nicht weiter gekommen, als die Worte – sie waren alt, älter als die Alte Welt, aus den frühesten Tagen der Jüngeren Götter – zu übersetzen.
    »Heiligtum des Lichts«, flüsterte er. »Was, denkst du, könnte das sein?«
    Isaaks Augen flatterten, und seine Mundklappe öffnete und schloss sich einige Male. Er legte den Kopf schief. »Wenn ich raten sollte«, sagte er, »würde ich die Hypothese aufstellen, dass es eine zweite Bibliothek war, die vom Androfranziner-Orden angelegt und versteckt wurde.«
    Die Worte trafen Neb wie ein Hammerschlag, denn er hatte sie in ihrer einfachen Klarheit nicht erwartet. Keuchend stieß er die Luft aus, sein Atem beinahe so weiß wie der Dampf, der aus Isaaks Entlüftungsrost sickerte. »Eine Bibliothek ?«
    »Licht«, fuhr Isaak fort, »ist in den Evangelien des P’Andro Whym eine Metapher für das gesammelte Wissen der Menschheit. Ein Heiligtum ist ein geheiligter Ort, der als sicher oder abgeschieden betrachtet wird.« Der Metallmann surrte und klickte, während er mit Gesten seine Worte untermalte. »Die Androfranziner haben zwanzig Jahrhunderte damit verbracht, das sogenannte Licht des Wissens zu sammeln und zu hüten, und der Schluss liegt nahe, dass sie dabei auch die Risiken bedacht haben, die es mit sich bringt, dieses Wissen an einem einzigen, gut zugänglichen und wohlbekannten Ort aufzubewahren. Wenn selbst ich, eine einfache mechanische Konstruktion, dieses Risiko sehen kann, dann kamen ihre besten Denker gewiss mit Leichtigkeit zu demselben Schluss und trafen entsprechende Vorkehrungen. «
    Neb dachte darüber nach. Konnten sie es wagen, auf etwas so Einfaches zu hoffen, um Sethberts Torheit wiedergutzumachen? Es würde zwar die zweihunderttausend Seelen nicht zurückbringen – auch nicht Nebs Vater –, und es würde die Vorherrschaft des Ordens in den Benannten Landen nicht wiederherstellen.
Der Orden war ebenso tot wie Windwir. Aber wenn die Große Bibliothek kopiert und an einem anderen Ort sicher verwahrt war für eine Zeit, wie sie ihnen jetzt bevorstand, was konnte das bedeuten? Selbst mit dem Wissen, das in den Mechoservitoren gespeichert war, und den Beständen, die durch Spenden oder Leihgaben von Sammlern, Bücherhäusern und Universitäten der Benannten Lande in ihren Besitz übergegangen waren, konnten sie nur hoffen, vierzig Prozent dessen wiederherzustellen, was die Große Bibliothek enthalten hatte. Eine verborgene Bibliothek wäre eine Fundgrube, die selbst ihre kühnsten Hoffnungen überstieg.
    »Hast du bisher irgendeinen Hinweis entdeckt?«
    »Keinen einzigen«, erwiderte Isaak. »Und ich suche nun zum dritten Mal. Ich habe verschlüsselte Nachrichten an die anderen geschickt, und auch sie suchen inzwischen.«
    Neb musterte den Mechoservitor im schwachen Licht jener

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