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Lobgesang

Titel: Lobgesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Scholes
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den Himmel, eine kalte, weiße Scheibe, eingehüllt in einen dünnen
Wolkenschleier. Sie war bereits aufgegangen, als er die Wälder verlassen und den Ozean aus gefrorenem Gras betreten hatte. Heute Abend würden sie auf der Terrasse des Südens lagern, am Rande der niedrigen, runden Hügel, die das Gräserne Meer im Westen und Süden begrenzten.
    Seltsam, dachte er, wie viele Stunden er an seinem Schreibtisch verbracht und den Wind auf seinem Gesicht und den Klang der Hufe in seinen Ohren herbeigesehnt hatte, die Stärke des Hengstes unter sich. Aber nun fand er daran keine Freude.
    Es ist eine düstere Zeit, um auf Reisen zu gehen. Und dennoch war er hier und ritt weiter, obwohl er nicht wissen konnte, wohin ihn die Reise letztlich führen würde oder wann genau er zu seiner Frau und seinem Kind zurückkehren konnte und zu der Arbeit, die auf ihn wartete. Doch zumindest hatte er den Wald in fähige Hände übergeben. Sogar in schlechtester Verfassung war Jin Li Tam eine begabte und vorzügliche Anführerin. Und er zweifelte keinen Augenblick daran, dass er sie in schlechtester Verfassung zurückgelassen hatte. Schon die Schwangerschaft hatte natürlich ihren Tribut gefordert, und auch wenn sie nun vorüber war, würden Jakobs zerbrechliche Gesundheit und die ununterbrochene Pflege, die er benötigte, beständig an ihr nagen. Aber er konnte auf ihren Sinn für Gerechtigkeit, Anstand und Strategie vertrauen, und er konnte auf sein Volk vertrauen, dass es sie ins Herz schloss, zumindest wegen des Erben, den sie für sie alle geboren hatte. Und es war eine gute Gelegenheit für Jin Li Tam, sich besser an sein Volk zu gewöhnen, ebenso wie umgekehrt.
    Beinahe drei Jahrzehnte waren vergangen, seit das Waldvolk zuletzt eine Königin gehabt hatte, und die edle Marielle hatte gemeinsam mit König Jakob gleichberechtigt geherrscht, hatte die Treue und Liebe der Zigeuner als eine der ihren empfangen, die aus bescheidenen Verhältnissen erwählt worden war, um mit ihrem König zu regieren.
    Bis jetzt hatte Rudolfo nicht viel über diese Dinge nachgedacht.
Aber es war, als hätte die kleine Seele, die sie gemeinsam geschaffen hatten, all seinen Gedanken eine neue Richtung gegeben, seinen Strategien ein neues Element für die Zukunft hinzugefügt.
    Denn jetzt errichte ich wahrhaft etwas, das über mich selbst hinausgeht. Etwas für jemanden, jemand anderen als ihn selbst.
    Er hatte bis jetzt keine Ahnung gehabt, wie mächtig das Gefühl, Vater zu sein, war, und er fragte sich, ob sich sein eigener Vater genauso gefühlt hatte, als seine beiden Söhne geboren worden waren.
    Er erinnerte sich an den Tod seines Bruders Isaak. Damals hatten sie geglaubt, er wäre an den Roten Pocken erkrankt und in der Nacht am Fieber gestorben. Inzwischen wusste er natürlich, dass Vlad Li Tam der Verursacher gewesen war, vielleicht mit der Hilfe derselben Frau, die er nun suchte, um sein eigenes Kind zu retten. Alles eine große Manipulation, um den älteren der Zwillinge aus dem Weg zu schaffen und Rudolfo an die Macht kommen zu lassen. Selbst das kleine Kind, um dessentwillen er jetzt ausritt, war ein Ergebnis der Strategie der Tam, von Vlad Li Tams zweiundvierzigster Tochter durchgeführt als Teil des Planes, die Bibliothek nach Norden zu verlegen und dadurch dieses Licht den akribischen Nachfolgern des P’Andro Whym zu entziehen und es in andere Hände zu legen. Wie viele seiner eigenen Kinder hatte der alte Bankier zusammen mit Rudolfos Bruder und später seinen Eltern geopfert, um sein Werk in den Benannten Landen durchzusetzen?
    Rudolfo hörte seinen ersten Leutnant pfeifen und blickte nach rechts, wo Jaryk, in die Regenbogenfarben der wollenen Winteruniform gekleidet, neben ihm ritt. Er deutete auf den südlichen Horizont. Leicht westlich vor ihnen war eine kurze, gezackte Linie in der Ferne zu erkennen, dunkel vor dem Weiß und Gelb der Steppe. Sie waren noch zu weit weg, als dass man Genaueres hätte erkennen können, aber Rudolfo konnte gerade eben die Wagen und Pferde einer kleinen Karawane ausmachen.

    Mit einem lauten Pfiff änderte er die Richtung und ritt auf die Linie zu. Seine Späher taten es ihm gleich, und aus dem Augenwinkel sah er, wie sie sich tief über die Sättel beugten und ihre Bögen und Messer lockerten, die niemals weit von den Händen eines Zigeunerspähers entfernt waren.
    Je näher sie kamen, desto deutlicher wurden die Umrisse der Karawane. Die groben Holzwagen waren mit Planen bedeckt, zwischen ihnen ritten

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