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Loch

Loch

Titel: Loch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Laymon
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eine Frau. Sie saßen reglos und steif unter den Sicherheitsgurten, die sich über Brust und Schoß spannten. Beide starrten gerade nach vorn. Dafür, dass sie in einem Bus mitten in der Wüste saßen, waren sie sehr gut angezogen. Der Mann trug Anzug und Krawatte, die Frau ein geblümtes Kleid.
    Das muss ein Reisebus sein, dachte sie. Vielleicht eine Kirchengruppe auf einem Ausflug.
    Klar, sie haben sich bestimmt auf dem Weg zum Grand Canyon verfahren. Kirchengruppen fahren normalerweise nicht durch die Gegend und schießen Leuten Kugeln in den Kopf.
    Aber wer hatte dann Rodney erschossen?
    Pamela bezweifelte, dass sie von einem dieser beiden gerettet worden war. Sie saßen da wie zwei Statuen.
    Pamela nickte ihnen zu, doch sie reagierten nicht. Sie drehte den Kopf. Auf der anderen Seite des Gangs, in derselben Reihe wie das Paar, saß ein Junge. Vielleicht ihr Sohn. Er war ungefähr acht oder neun Jahre alt und trug eine Baseballkappe, Jeans und T-Shirt. Pamela versuchte, die Aufschrift auf dem T-Shirt zu lesen. Die Worte waren stellenweise von dem Sicherheitsgurt über seiner Brust verdeckt, doch sie konnte eine Botschaft entziffern, die ihr ziemlich seltsam erschien: Ich war in Pits – es ist wirklich das letzte Loch. Pits, CA, Einwohner: 6.
    Obwohl der Junge wie ein normales Kind gekleidet war, saß er steif an dem zugehängten Fenster, die Arme an den Seiten angelegt, den Blick nach vorn gerichtet, und rührte sich nicht.
    »Hallo«, sagte Pamela und hoffte, ihre Stimme wäre laut genug, um den Lärm des Busses zu übertönen.
    Der Junge sah sie nicht einmal an.
    Wirklich freundliche Leute, dachte sie. Wahrscheinlich eine Religionsgemeinschaft, ein Haufen Fanatiker, die sich für gottesfürchtiger als alle anderen halten. Vielleicht haben sie ein Schweigegelübde abgelegt.
    Ja, aber jemand hat Rodney erschossen. Jemand hat mir das Leben gerettet. Sie setzte sich auf, drehte sich zum Mittelgang und schwang die Beine herab. Ihre Fußsohlen fühlten sich steif und wund an, deshalb war sie vorsichtig, als sie sie auf den Boden stellte. Die Gummimatte war kühl, weich und ein wenig rau. Sie winkte dem Jungen zu.
    Er ignorierte sie.
    Sie wandte den Kopf nach links. Gleich neben der Armlehne der Bank, auf der sie gelegen hatte, befand sich eine schulterhohe Trennwand aus Metall. Sie nahm an, dass sie dazu diente, den Fahrersitz abzuschirmen, doch die Oberkante des Sitzes und der Kopf des Fahrers ragten darüber hinaus.
    Er trug keine Mütze. Sein schwarzes Haar war hinten und an den Seiten so kurz geschnitten, dass die Kopfhaut durchschimmerte. Dadurch wirkten die Ohren viel zu groß. Oben stand sein Haar ab wie die Borsten einer Bürste. »Hallo«, sagte Pamela.
    Er antwortete nicht.
    »Fahrer?«, sagte sie mit erhobener Stimme.
    »Nicht sprechen, Ma’am«, rief er, ohne sich umzudrehen. Er klang nicht verärgert, sondern nur wie jemand, der eine simple Feststellung machte.
    »Was?«, fragte sie. »Was soll das heißen?«
    »Während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen. Das ist Vorschrift in der Firma.«
    »Ah. Okay.« Sie nahm an, es handelte sich um eine Sicherheitsanweisung. »Entschuldigung«, fügte sie hinzu.
    »Kein Problem.«
    Sie überlegte, ob die Busgesellschaft auch eine Vorschrift hatte, die es untersagte, während der Fahrt aufzustehen.
    Das werde ich gleich rausfinden.
    Sie beugte sich vor, griff nach einer glänzenden Haltestange und zog sich von der Bank. Schmerz schoss von ihren Füßen durch den Körper. Sie stand vorgebeugt da, umklammerte die Stange und hatte den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Der schlimmste Schmerz war bald vorbei. Sie richtete sich auf. Während sie tief durchatmete, fiel ihr auf, dass die Vorhänge an den Fenstern auf der anderen Seite des Gangs aus Streifen gelber Decken zu bestehen schienen. Sie waren mit silbernem Klebeband an den Scheiben befestigt. Wirklich elegant, dachte sie. Was ist das denn für ein Bus? Wahrscheinlich eine dieser lebensgefährlichen Klapperkisten ohne Bremsen, von denen man hört, wenn sie mal wieder auf dem Weg zu einem Erweckungswochenende oder Bibelcamp oder so in den Bergen verunglücken.
    Und die Pilger kommen ein bisschen früher in den Himmel, als sie dachten. Amen.
    Vielleicht fahren wir wirklich zu einem Bibelcamp. Wenn wir nicht auf dem Weg einen Unfall haben und sterben.
    Pamela bewegte nur ihren Kopf und sah im Bus nach vorn. In dem hellen Licht, das durch die Windschutzscheibe fiel, musste sie die Augen zusammenkneifen.

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