Lockende Versuchung
Schränke im Ankleidezimmer auf und holte ein dickes Paket heraus, das vor ein paar Tagen für sie von Mr de Voss abgegeben worden war. Seit Tagen freute sie sich auf den Ball und hatte sich wohl schon an die hundertmal vorgestellt, wie sie Edmund entdecken und mit ihrem Charme erobern würde. Oh, sie würde ihn verführen, wie noch nie eine Frau einen Mann verführt hatte!
Nachdem sie das Kostüm angelegt hatte, betrachtete sie sich eingehend im Spiegel. Zweifellos würde sie damit heute Abend viele Blicke auf sich ziehen, denn Mr de Voss hatte wirklich ein Meisterwerk geliefert. Das locker geschnittene Gewand war mit zahlreichen Bändern aus durchscheinender Seide in allen Grünschattierungen besetzt, das dadurch den Anschein natürlichen Blattwerks erhielt. Es wurde ohne Reifrock und sogar ohne Unterröcke getragen und umschmeichelte die Linien ihres Körpers auf betörende Weise.
Ein Kranz von ganz echt wirkenden seidenen Blüten der wilden Rose und der Ringelblume, wie sie an den Flussufern von Surrey wuchsen, umgab den gewagten Ausschnitt, und eine Girlande aus denselben Blumen hing von der Hüfte herab. Die Maske in einem dunklen Smaragdgrün war besonders geschickt gearbeitet. Die Schlitze für die Augen wiesen an den äußeren Winkeln leicht noch oben und gaben dem Gesicht damit ein geradezu betörendes Aussehen. Es war alles ganz genauso, wie sich Julianna die Elfenkönig Titania vorstellte, und sie konnte es kaum fassen, dass das bezaubernde Geschöpf da im Spiegel sie selbst sein sollte.
Als an dem Türknopf gerüttelt wurde, fuhr sie aus ihren Träumen auf.
„Mylady?“, rief Gwenyth. „Warum habt Ihr abgeschlossen?“
„Einen Augenblick.“ Hastig warf Julianna einen weites Cape über und zog die Kapuze über den Kopf. „Ist Sir Edmund schon gegangen?“
„Ja, schon vor einer guten halben Stunde, sagt Mr Brock. Und er hat das Pferd genommen, das Ihr ihm zu Weihnachten geschenkt habt.“
Ehe Julianna die Tür öffnete, verbarg sie noch rasch die Maske in der Tasche ihres Umhangs und lächelte bei dem Gedanken an Edmunds überraschtes Gesicht, als sie ihm am Weihnachtsmorgen den hübschen rötlichgrauen Wallach präsentierte. Sofort war ihm der passende Name für den imposanten Rotschimmel eingefallen: Agincourt. Und als der vor derFesttagen gefallene Schnee geschmolzen war, hatte er sofort die ersten Ausritte unternommen.
„Braucht Ihr noch Hilfe beim Umkleiden?“, fragte Gwenyth diensteifrig, als sie das Zimmer betrat. Aber Julianna schüttelte den Kopf. „Nein, danke, ich bin ganz gut allein zurechtgekommen. Nun muss ich mich aber beeilen, damit mir die anderen Damen nicht meinen Gemahl für den heutigen Abend abspenstig machen. Du brauchst nicht auf mich zu warten. Lady Vanessa geht davon aus, dass der Ball nicht vor dem Morgengrauen endet.“
Als sich die Kutsche dem Hause des Marquis näherte, begann ihr Herz wild zu klopfen, und in ihrem Magen schienen tausend Schmetterlinge umherzuschwirren. Der Kutscher musste sich der Reihe der Wartenden anschließen, die sich in der Auffahrt drängten und nur ganz allmählich an das Tor heranfuhren, wo die Insassen aussteigen konnten. Julianna nutzte die Gelegenheit, um ihre Maske festzubinden und ein Stoßgebet zum Himmel zu senden, damit ihr Unternehmen nur ja nicht fehlschlug.
Das Stadtpalais des Marquis war erfüllt von Lichtern, Musik und fröhlichen Stimmen. Ein Lakai in einer prächtigen Livree nahm Juliannas Einladung entgegen, ein anderer ihr Cape. Zusammen mit einigen anderen Ankömmlingen schlug sie dann den Weg zum Ballsaal ein. Auf der Schwelle stockte ihr jedoch der Schritt, denn der Anblick verschlug ihr fast den Atem. Noch nie hatte sie einen so großen Raum in einem Privathaus gesehen. Er war von riesigen Kronleuchtern erhellt, deren jeder einzelne Hunderte von Kerzen enthielt. Ihr Schein brach sich tausendfach in ihrem üppigen Kristallschmuck. Ein Streichorchester auf einer erhöhten Plattform spielte bereits die ersten Tanzweisen, und an der gegenüberliegenden Wand waren Tafeln aufgestellt, die sich unter der Fülle der Delikatessen und den unzähligen Flaschen und Gläsern fast zu biegen schienen. Die Zahl der Gäste war nur schwer einzuschätzen. Es musste auf alle Fälle eine Unmenge sein, und Vanessas Organisationstalent war nur zu bewundern, dass sie es unter diesen Umständen ermöglicht hatte, ein derart beeindruckendes Fest auszurichten.
Die Besucher schlenderten neugierig und gut gelaunt durch den Saal und die
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