Lockende Versuchung
Brock, der sich lautlos genähert hatte, ins Ohr. „Aber für einen Mann wie den Kapitän ist es eben eine bittere Pille, das Bett hüten zu müssen. Schließlich konnte er sein Lebtag lang kommen und gehen, wie er wollte. Deshalb ist es besser, er schluckt sie vor Euch mit Eurem hübschen Gesicht als von mir mit meiner alten hässlichen Visage.“
Dankbar für seine tröstenden Worte nickte Julianna dem Haushofmeister zu und drückte ihm herzlich die Hand.
Eigentlich hatte Julianna immer noch nicht so recht begriffen, wie es ihr gelungen war, den anfangs so feindseligen Mr Brock auf ihre Seite zu ziehen. Was hingegen Sir Edmund anbelangte, so begann sie, als die dunklen Wintertage langsam hinschwanden, ernsthaft daran zu zweifeln, ob sie ihn je zu ihren Verehrern würde zählen können. Angesichts der dauernden Vertraulichkeit mit ihm, zu der sie durch seine Pflege gezwungen war, erschien ihr der frühere lose Kontakt nunmehr weitaus erstrebenswerter.
Nicht dass sie ihre Pflichten als unangenehm empfand – im Gegenteil. Der Zeitvertreib, den sie für den Kranken ersann, war derzeit ihre einzige Freude. Dennoch ärgerte es sie, dass Sir Edmund alles bestimmte, was dann letztendlich unternommen wurde. Wenn sie doch nur ein einziges Mal selbst entscheiden könnte, wann sie welches Buch vorlas oder womit sie sich als nächstes beschäftigten!
Vielleicht wäre alles auch etwas leichter für sie gewesen, wenn die Zeit, die sie mit Crispins Onkel zubrachte, ihn ihr etwas näher gebracht hätte. Doch das war keineswegs der Fall. Sir Edmund missfiel offensichtlich seine Abhängigkeit von ihr, und da Julianna ständig zur Hand war, ließ er seinen Unmut oft an ihr aus. Langsam näherte sich ihre Geduld mit diesem reizbarenPatienten dem Ende. Wo war eigentlich der Mann geblieben, den sie während der Weihnachtstage zu entdecken geglaubt hatte – der Mann mit witzigem Geist, mit zurückhaltender Ritterlichkeit und gleichbleibender Freundlichkeit? Wahrscheinlich war er nur ihrer Fantasie entsprungen.
Als sie ihm gar die Rückgabe seiner geliebten Pfeife verweigerte hatte, war der Kranke ganz und gar unerträglich geworden und überschüttete den armen Mr Brock, der sich nach wie vor weigerte, Juliannas Anweisungen zuwiderzuhandeln, mit Hohn und Spott.
Jeden Tag hoffte sie, der Doktor würde den Patienten für außerhalb jeder Gefahr erklären und ihm erlauben, aufzustehen und sein gewohntes Leben wieder aufzunehmen. Doch immer beharrte Mr Cail trotz ihrer flehenden Blicke: „Die Milz ist noch geschwollen. Ihr seht zwar besser aus, Sir Edmund, aber ich fürchte dennoch, Ihr werdet Euch weiterhin in Geduld üben müssen – wenigstens noch zwei oder drei Wochen.“
Der Gedanke, diesen Zustand noch wochenlang ertragen zu müssen, brachte Julianna vollends aus der Fassung. Die Augen brannten ihr bereits von dem vielen Lesen, die Finger schmerzten vom Harfespielen, und der Rücken tat ihr vom stundenlangen Sitzen neben dem Bett weh. Wenn sich dieser unerträgliche Kranke heute etwa wieder mit ihr anlegte, dann sollte er sich nur ja vorsehen!
Ein Lakai lugte vorsichtig durch den Türspalt.
„Oh, Ihr seid schon wach, Sir“, sagte der junge Mann eifrig und bewies damit seine außerordentlich rasche Auffassungsgabe. „Da werde ich mal ganz schnell die Herrin rufen.“ Hastig verschwand er wieder, bevor Sir Edmund noch Widerspruch einlegen konnte.
Missmutig blickte der Baronet zu der Tür, durch die binnen Kurzem seine despotische Gemahlin mit ihrer ewig gleichbleibenden Miene der treu sorgenden Selbstaufopferung eintreten würde, um ihn mit ihrer ständigen Freundlichkeit umzubringen. Hatte er tatsächlich Julianna jemals als ein reizendes, wehrloses Geschöpf angesehen? Ha, das kleine Ding war in Wirklichkeit genauso süß und wehrlos wie ein Tiger im indischen Dschungel!
Erst hatte sie Schuldgefühle in ihm ausgelöst und ihn dadurch ans Bett gefesselt und dann mit ihrer gespielten Besorgnis förmlich erdrückt. Sie schüttelte die Kissen auf, auch wenn sie es überhaupt nicht nötig hatten. Dutzende Male am Tage strich sie das makellose Laken glatt. Als nächstes würde sie im vielleicht Brei einlöffeln und ihm nach jedem Happen den Mund abwischen!
Das schlimmste aber war, dass die kleine Schlange seine Rolle als Oberhaupt des Hauses an sich gerissen hatte ohne das geringste Trostpflaster für seinen Stolz. Die ganze Dienerschaft hatte sie ihrem Willen unterworfen, einschließlich Mordecai Brock. Diesen letzten
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