Lockende Versuchung
erzählt.“
Mit diesen Worten verstieß er zum ersten Male gegen eine lebenslange Gewohnheit. Nie zuvor hatte er zu irgendjemanden über sich selbst oder seine Vergangenheit gesprochen. Doch gegen Juliannas erwartungsvollen Blick war er einfach machtlos. Eine merkwürdige Kraft zog ihn zu seiner jungen Frau, sodass er sich ihr in der einzigen Form, die er sich gestattete, näherte.
9. KAPITEL
„Ich wuchs auf den Wiesen und in den Wäldern rund um Abbot’s Leigh auf“, begann Edmund seine Erzählung. „Die Gegend dort ist wunderschön … grün, lebhaft, manchmal sogar wild. Man konnte die Jahreszeiten an ihrem Geruch erkennen. In jenen Tagen habe ich wohl jeden Quadratmeter zwischen Guildford und Farnham erkundet. Es war wahrscheinlich der Wandertrieb der Bayards, der schon damals in mir lebte.“
„Der Bayards?“, erkundigte sich Julianna überrascht.
„Oh, ja, ich bin auch ein Bayard. Meine Mutter war Rosemary Bayard, die Tochter von Lord Marlwood, und Crispins Vater war unser Cousin. Du siehst also, dass Crispin mit dem Blut der Bayards von beiden Elternteilen seinem Schicksal als Abenteurer nicht entgehen konnte. Schau einmal dorthin.“
Edmund wies auf die Wand über dem Kamin. Dort hing eine alte Seekarte unter Glas, deren Zeichnungen in ein tiefes Braun nachgedunkelt waren. „Sie gehörte meinem Onkel Walter Bayard, einem unerschrockenen Forscher. Als ich acht Jahre alt war, kehrte er nach Abbot’s Leigh zurück, und den ganzen folgenden Winter wich ich kaum von dem Schemel neben seinem Stuhl. Er hatte so viel spannende Geschichten zu erzählen, dass ich ohne Ende hätte zuhören können.“ Traurig schüttelte er den Kopf. „Leider starb mein Onkel schon im nächsten Winter. Aber er hatte zuvor meinen Kopf mit dem Wissen über die Ozeane angefüllt und in meinem Herzen den brennenden Wunsch geweckt, die weite Welt mit all ihren Wundern zu sehen. Deshalb nahm ich nach Beendigung der Schule eine Stellung in der Marine an und trat in seine Fußstapfen.“
Einen Augenblick lang schwieg Edmund und überdachte noch einmal seinen Schulbeginn. Gegen seinen Willen kleidete er die Gedanken, die ihm dabei durch den Kopf gingen, in Worte. „Ich habe meinen Vater nie wieder so froh gesehen wie an dem Tag, da ich nach Eton abreiste. Er konnte es gar nicht erwarten, mich endlich loszuwerden. Meine erste Erinnerung an ihn war seine Feststellung, ich sei der Junge, der seine Mutter umgebracht hat.“ Er warf einen raschen Seitenblick auf Julianna und fügte mit gleichgültiger Miene hinzu: „Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein – so heißt es doch.“
In Juliannas Augen glitzerten wieder einmal Zornesfunken. „Wie konnte er das tun? Ein unschuldiges Kind! Und er war ein Mann Gottes!“
„Schon gut, schon gut, schone lieber deine Stimme. Jetzt bin ich an der Reihe. Im übrigen war mein Vater kein religiöser Mensch im eigentlichen Sinne, sondern mehr ein theologischer Theoretiker, der die heilige Lehre als Übung des Geistes betrachtete und überzeugt war, dass er als Lohn für seine Bemühungen vollkommenes Begreifen geschenkt bekommen hatte – ein gutes Beispiel für die Sünde des Hochmuts in der Familie Fitzhugh. Zudem ist es meiner Meinung nach auch noch Ketzerei.“
Als Edmund bewusst wurde, dass er zum ersten Male eine so scharfe Kritik an seinem Vater geübt hatte, hielt er unvermittelt inne und presste die Lippen aufeinander. Wie sollte Julianna, die ihren Vater so verehrt hatte, diese Gefühle verstehen? Mit aller Kraft kämpfte er gegen den Groll und die Ablehnung in seinem Herzen an. Doch plötzlich spürte er ihre Hand auf seinem Arm, eine feingliedrige und doch kräftige Hand, und als er in Juliannas Augen blickte, lag ein warmer Glanz darin, der ihm wie das heimatliche Licht am Ende einer kalten und einsamen Reise erschien.
„Ich frage mich, ob mein Vater je Schuldgefühle gekannt hat“, murmelte er. „Schließlich hat er mit meiner Mutter ein Kind gezeugt, obwohl er wusste, wie gefährlich eine Geburt in ihrem Alter sein konnte. Alice hat mir einmal gesagt, er habe Mutter sehr geliebt, doch ich habe es nicht geglaubt. Der Mann, den ich kennengelernt habe, war unfähig zu lieben …“
Ein kurzes Klopfen unterbrach seine weiteren Worte. Mit dem Teetablett in der Hand betrat Mr Brock das Zimmer und blieb nach dem ersten Schritt peinlich berührt und ratlos stehen, als er seinen Herrn und Mylady zusammen im Bett erblickte. Er wirkte derart bestürzt, dass Edmund und
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