Lockruf der Finsternis
Lass mich hier raus – oder du wirst es bereuen.«
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Wenn du mich umbringst, dann kommst du hier nie mehr heraus.« Sie spürte, dass sie einen Moment lang stärker gegen die Wand gedrückt und dann losgelassen und so behutsam auf den Boden abgesetzt wurde, dass sie überrascht war. »Danke.«
Er kniff wütend die Augen zusammen. »Ich muss hier raus. Es sind nicht mal mehr drei Wochen, bis die Katastrophe eintritt, und ich habe noch einiges zu tun, um mich darauf vorzubereiten.«
»Ja, und ich habe einen gebrochenen Arm, um den sich jemand kümmern muss. Ich sag dir was: Du setzt dich hierher und denkst über die Katastrophe nach und darüber, wie du Artemis erledigen willst, und ich bin gleich wieder da. Aber geh nicht an meine Sachen und mach nichts kaputt.«
Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber sie hatte sich schon aus ihrem kleinen Haus in den Hauptpalast von Kalosis versetzt.
Kat materialisierte sich im Foyer und brauchte einen Moment, um ihre Großmutter mit ihren Gedanken zu finden. Wie es für sie typisch war, war Apollymi draußen in ihrem Garten.
Aus Rücksicht ging Kat dieses kurze Stück durch den Thronsaal zu den vergoldeten Türen, die nach draußen führten, zu Fuß. Ihre Großmutter mochte es nicht, wenn Leute unerwartet vor ihr auftauchten – und Kat war die Einzige, die wusste, warum das so war. Als Kind war sie einmal unangekündigt aufgetaucht und hatte ihre Großmutter angetroffen, wie sie vor Schmerz und Kummer völlig aufgelöst war und weinte. Und das durfte niemand wissen.
Apollymi war die Große Zerstörerin und wollte, dass man sie nur streng und erbarmungslos erlebte. Aber Kats Großmutter war viel mehr als das. Sie hatte ein Herz, und sie hatte Schmerzen, genau wie jeder andere im Universum.
Alles, was Apollymi wollte, war, dass sie ihren Sohn, Kats Vater, wiederbekam. Ein Sohn, den sie mehr als alles andere geliebt und den sie nur zwei Mal im Arm gehalten hatte. Einmal, als er ihr vor der Geburt genommen und in den Leib einer anderen Frau eingesetzt worden war, und das zweite Mal an dem Tag, als der griechische Gott Apollo ihn getötet hatte.
Es gab keinen Tag, an dem Apollymi diese Trennung nicht bedauerte und sich danach sehnte, dass ihr Sohn nach Hause zurückkehrte. Und sie reagierte mehr als schroff auf jeden, der sie beim Weinen erwischte. Sie war eine stolze und strenge Frau, die niemandem ihre Schwäche zeigen wollte.
Nicht einmal ihrer eigenen Enkelin. Aber Kat konnte Apollymis Trauer und Schmerz in ihrer strengen Bitterkeit erspüren. Die Empathie ihres Vaters war eine der vielen Dinge, die Kat von ihm geerbt hatte. Deswegen würde sie Apollymi oder sonst irgendjemanden niemals in Verlegenheit bringen, wenn es sich vermeiden ließe.
Also trat Kat langsam näher, nur für den Fall, dass Apollymi Zeit brauchen sollte, um sich zu beruhigen. Eine sanfte Brise strich über sie. Der Garten selbst war von hohen schwarzen Marmorwänden umgeben, die so glänzten, dass sie Spiegel ähnelten.
Apollymi saß auf einem schwarzen Stuhl und wandte Kat den Rücken zu. Zwei Charonte-Dämonen, ein männlicher und ein weiblicher, befanden sich rechts und links von ihr. Der männliche Dämon trug nur einen Lendenschurz. Die Haut seines schmalen, muskulösen Körpers war von einem blassen Braun mit Gelbtönen. Seine Augen waren so schwarz wie seine Haar und seine Flügel. Der weibliche Dämon hatte eine orangerote Haut und trug ein rückenfreies Oberteil aus schwarzem Leder. Ihr Haar war dunkelbraun und zu einem Bob geschnitten, der ihre scharfen Gesichtszüge und ihre roten Augen nur noch mehr betonten. Die Dämonen waren still wie Statuen, aber Kat wusste, dass sie sich ihrer Gegenwart sehr wohl bewusst waren und jede ihrer Bewegungen ganz genau verfolgten.
Apollymi trug ein schwarzes fließendes schulterfreies Gewand und hielt ein kleines Kissen im Schoß. Es war ein Geschenk, das Simi, der persönliche Charonte-Dämon von Acheron, ihr Jahre zuvor gemacht hatte. Und weil es Acherons Geruch an sich hatte, behielt Apollymi es immer in ihrer Nähe, damit sie sich dem Sohn, den sie niemals berühren konnte, näher fühlte.
Kats Großmutter war wunderschön und schien völlig gelassen zu sein. Sie hatte langes weißblondes Haar und wirbelnde silbrige Augen und wirkte nicht älter als Mitte zwanzig. Ihre helle Haut war durchscheinend, und in ihrem Haar glitzerten kleine Tropfen.
Sie wandte leicht den Kopf, um Kat zu begrüßen, aber ihr
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