Lockruf Der Nacht
erzählten.
An wärmeren Tagen, wenn halb New York draußen ist, sitze ich zu Hause auf dem Sofa, hänge meinen Gedanken nach und sehe am Abend den Wolken zu, wie sie gemächlich aber stet den Himmel zuziehen. Sie sind alle da, bis auf die siebte. Sie fehlt. An den Wochenenden fahre ich manchmal an den Strand und mache ausgiebige Spaziergänge.
Mein Arbeitgeber ist wenig angetan von meiner depressiven Phase, aber auch das interessiert mich herzlich wenig.
Seit Tagen bin ich am Überlegen wegzufahren. Raus aus New York, ab in die Natur. Mir schwebt da eine Klettertour im Gran Canyon vor. Ich bin zwar aus der Übung, aber mit ein bisschen Training komme ich wieder in Form. Letztes Jahr habe ich zwei Climbing Touren mitgemacht. Ich durchforste gerade das Internet nach billigen Flügen, als Lilith nach Hause kommt.
»Hey, seit wir unter einem Dach leben, sehen wir uns weniger als vorher. Schon lustig.«
Sie hat recht. »Wie geht´s dir?«
»Payton hat es aufgegeben mich zu tyrannisieren. Zumindest träume ich nicht mehr von ihm. Hat sich wohl ein anderes Opfer ausgesucht«, sagt sie scherzend.
Lilith sieht auch besser aus als noch vor ein paar Wochen, als die Albträume sie heimsuchten.
»Yven hat mich angerufen.«
»Ah ja?« Als ich das letzte Mal an Yven gedacht habe, war ich ziemlich wütend auf ihn, weil er mich versetzt hatte. Nicht nur deshalb, gebe ich zu, sondern auch weil so viele Fragen offen waren und er der Einzige war, der sie hätte beantworten können. Nun war alles in den Hintergrund gerückt und vergessen und doch spüre ich ein kleines Kribbeln in der Magengegend, das plötzlich wieder auflebt. »Was wollte er denn?«
»Uns auf eine Party einladen.«
»Diese Great Gatsby Party ? Ich dachte, die wäre längst vorbei.«
»Sie wurde immer wieder verschoben.« Lilith sieht mich an und ich weiß genau, was sie denkt. Soll sie mich fragen, ob ich mitkomme, wo ich doch so viele Einladungen abgelehnt habe? »Und wann ist sie jetzt?«
»In zwei Tagen.«
»Schon?«
Sie nickt und ein Schatten legt sich auf ihr Gesicht.
»Du überlegst, ob du hingehst, wegen Payton, stimmt´s?«
Wieder nickt sie nur und spielt mit ihren Fingern.
Hatte Yven nicht gesagt, dass es ein Traditionsfest ist? Das würde bedeuten, dass die ganze Familie dort ist. Ein totgeglaubter Schmetterling gibt ein winziges Lebenszeichen von sich und mir einen kleinen Auftrieb. »Wir schlagen beide dort auf. Und du wirst ihn ganz normal begrüßen. Wenn du Angst zeigst, weiß er nur, dass er gewonnen hat.«
»Das weiß er auch so.«
»Ist doch Blödsinn.«
Sie setzt sich neben mich, rückt nah an mich heran und sagt in leisem Ton, als hätte sie Angst, es könnte jemand mithören: »Es waren nicht nur Träume, Leia.«
Ich ziehe die Augenbrauen hoch und sehe sie mit großen Augen an.
»Ich bin mir sicher, dass er in meinem Zimmer war. Wirklich, meine ich, also in persona.« Sie schüttelt vehement mit dem Kopf, als könnte sie es selbst nicht glauben, was sie da gerade redet. »Ich weiß, es klingt verrückt, aber er hat sich dort vor meinen Augen verwandelt.«
Ich lege ihr beruhigend meine Hand aufs Knie. »Lilith, ich habe das Gleiche wie du erlebt, nur anders. Schöner. Erinnerst du dich, als ich dir von Ihm erzählt habe? Jetzt weißt du, was ich meinte.«
Liliths Augäpfel stehen plötzlich zur Hälfte unter Wasser, wie Schiffsbullaugen. Ich habe sie schon aus Wut weinen gesehen oder als meine Mom starb konnte sie ihre Tränen auch nicht unterdrücken, aber noch nie rollten die Tränen aus Verzweiflung, Scham oder Angst.
»Ich bin manchmal einfach saublöd. Tut mir leid. Ich sehe einfach viele Dinge nicht oder will sie auch gar nicht sehen, weil mir das zu abstrakt ist. Ich verstehe nur was von abstrakter Malerei, das wars auch schon.« Sie lacht durch ihre Tränen. »Es tut mir leid, wenn ich dich als Freundin enttäuscht habe.«
»Lass uns dem Feind ins Antlitz sehen«, sage ich entschlossen.
Die Party findet nicht, wie ich angenommen hatte, in den Hamptons statt, sondern auf Rhode Island in Newport. Nicht gerade um die Ecke. Es wird dieses Mal ein längerer Ausflug und dafür steht uns sogar ein Zimmer für zwei Nächte zur Verfügung. Auf der Einladungskarte, die Lilith bekommen hat, steht, dass wir bitte die genaue Ankunftszeit in Newport Flughafen angeben sollen, damit man uns abholen kann. Außerdem Angaben zur Kleidungsetikette: 20er und 30er Jahre. Diese Reichen haben wohl nichts anderes zu tun, als den
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