Lockruf Der Nacht
Regen auf mein Gesicht. Lilith steht daneben. Sie sieht trocken aus. Habe ich vielleicht alles nur geträumt? Ist sie gar nicht mit mir reingefallen?
»Scheiße, das war knapp«, höre ich Yven sagen.
»Verdammt nochmal, wie konnte das passieren?«, flucht Mo und lehnt sich erschöpft an die Reling. Er ist wie ich völlig durchnässt. »Scheisse.«
»Keine Ahnung …«, antwortet Payton. »Der Haken muss sich gelöst haben.«
Es war also doch kein Traum. Ich rappel mich hoch und setze mich hin, darauf achtend, nicht zu dicht in die Nähe der stürmischen See zu kommen. Das Schiff geht mit dem Wellengang hoch und runter. Ich versuche nicht daran zu denken, sonst spucke ich gleich noch aufs Deck.
»Mein Gott, Leia, du hast uns einen riesigen Schrecken eingejagt«, sagt Lilith und kniet sich neben mich.
»Zum Glück bin ich wassererprobt«, murmle ich vor mich hin und denke, dass keiner den Sinn des Satzes versteht.
Yven legt eine Decke um mich und sieht mich mit seinen warmen Augen besorgt an, während Mo mich beobachtet. Wie hatte er mich im Wasser, besser gesagt unter Wasser finden können? Warum war er das letzte Mal so plötzlich da? Ich weiß nicht mehr was ich denken oder fühlen soll, weil er sich so eigenartig mir gegenüber verhält, als wäre nie etwas zwischen uns gewesen. Ein schrecklicher Gedanke macht sich plötzlich in mir breit. Vielleicht ist auch nie etwas passiert.
Yven geht unter Deck. Der Motor wird gestartet und dann nehmen wir Fahrt auf die Küste auf.
Mo streicht sich das nasse Haar zurück - eine Bewegung, die unglaublich sexy ist - und setzt sich zu mir. »Du musst in Zukunft besser auf dich aufpassen, Leia. Auf dich und das Wasser.«
Dabei legt er die Betonung auf das Wasser. Er weiß also doch von meiner Angst und meinen Träumen mit diesem Element, die mich schon seit meiner Kindheit verfolgen.
»Ich glaube, solange du da bist, kann mir nichts passieren.«
»Was lässt dich das glauben?«
»Ich weiß es.« Ich warte, dass er etwas dagegen sagt, aber er schweigt.
»Glaubst du, dass Liebe ewig halten kann?«
Die Frage kommt ziemlich unerwartet. Dabei sieht er mich mit seinen schönen Augen an und ich habe das Gefühl, als würde er mit seinen Fingerspitzen über meinen Rücken gleiten. »Nein.«
Er nickt, als würde er meiner Antwort zustimmen.
Ich bin ehrlich. Ich kenne niemanden, bei dem die Liebe lange gehalten hat. Meine Großeltern lebten zwar so lange zusammen, bis mein Großvater starb, aber ich glaube nicht aus Liebe, sondern eher aus Gewohnheit. Eine normale Beziehung kommt ohne Streit, Hass, Betrug und Tristesse nicht aus. Verliebtsein hält eine kurze Zeit an, dann kommt der Alltag, der die Selbstverständlichkeit bringt. Das habe ich selbst nur allzu oft erlebt. Und doch denke ich manchmal: »Vielleicht gibt es doch Ausnahmen. Wenn der Respekt bewahrt bleibt, sie gehegt und gepflegt wird, wie man es mit einem zarten kleinen Setzling macht … Ich denke dann bestünde die Möglichkeit, ein Verliebtsein und die Liebe aufrechtzuerhalten. Vorausgesetzt, dass der Mensch, den man kennengelernt hat, sich nicht um hundertachtzig Grad dreht und aus seiner schönen Hülle ein anderer Geist steigt, der einem das Fürchten lehrt.« Ich verziehe mein Gesicht zu einer grauenerregenden Fratze, forme meine Finger zu imaginären Klauen und ahme das Geräusch eines bösen Geistes nach. Mo weicht gespielt zurück. »Jetzt machst du mir aber Angst«, sagt er grinsend.
Der kleine Hafen von Newport ist bereits in Sicht, gleich ist alles vorbei. Mo wird seines Weges gehen, der ihn in die Arme seiner Frau führen wird und ich kann nur hoffen, dass ich ihn bald wiedersehe und das nicht nur in meinem Traum. Vielleicht wäre es möglich gewesen, ihn mit der Zeit zu vergessen, aber nur, wenn ich ihn an diesem Wochenende nicht in persona gesehen hätte.
Mo will sich erheben, als ich meine Hand auf seinen Arm lege. Er sieht mich an und bleibt in der Hocke vor mir sitzen. »Mo … Danke dir.«
»Kein Problem.«
Schweren Herzens sehe ich ihm nach, wie er zu Payton geht.
»Mein Gott, hast du mir einen Schrecken eingejagt. Ich dachte du bist tot.« Lilith setzt sich auf den Platz, auf dem Mo vorher gesessen hat.
»Ehrlich gesagt war ich auch kurz davor.« Das Gefühl zu ertrinken werde ich mein Lebtag nicht mehr vergessen. Ab jetzt werde ich nicht mal mehr in die Nähe des Wassers gehen. »Ich dachte du wärst auch reingefallen.«
»Ich konnte mich gerade noch an der Reling festhalten.«
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