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Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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selbst.«

 
    5
     
     
     
    Ich wandte mich von Colin ab und schlug die Hände vor mein Gesicht. »Wir drei fanden dich dort«, fuhr er fort. »Du standest mit völlig verwirrtem Gesicht vor den beiden Toten. Du hast nicht geweint, du hast überhaupt keinen Laut von dir gegeben. Du hast nur dagestanden und die beiden Toten mit starrem Blick angesehen. Onkel Henry nahm dich auf den Arm und trug dich zum Haus, während ich nach East Wimsley ritt, um den Arzt zu holen. Theo suchte deine Mutter und fand sie im Garten. Er holte sie ins Haus, damit man ihr sagen konnte, was geschehen war.« Colin legte mir wieder die Hände auf die Schultern, aber diesmal sachte und behutsam. »Du hast an dem Tag und auch am folgenden nicht ein einziges Wort gesprochen, Leyla; du hast nicht eine Träne geweint. Und du hast nichts gegessen. Du hast die ganze Zeit nur wie benommen in deinem Zimmer gesessen. Aber deine Mutter weinte; sie weinte so laut, daß es im ganzen Haus zu hören war. Es war furchtbar. Ich habe nie einen so schrecklichen Tag erlebt.«
    »Und weiter?« fragte ich leise.
    »Danach seid ihr verschwunden. Am frühen Morgen des dritten Tages hörten wir alle eine Kutsche in der Auffahrt, und später entdeckten wir, daß der Einspänner weg war. Deine Mutter hatte uns verlassen, ohne irgend jemandem etwas zu sagen, und dich hatte sie mitgenommen.«
    »Ist uns denn niemand gefolgt?« Er schwieg.
    Ich drehte mich mit einer heftigen Bewegung um. »Eine Frau, die vor Schmerz und Kummer außer sich war, und ein fünfjähriges Kind – und keiner ist uns gefolgt?«
    »Leyla, bitte hör’ mir zu – «
    »Und wir mußten in London in Not auf engstem Raum hausen, meine Mutter nur noch ein Schatten ihrer selbst, und ich ohne Erinnerung, während ihr hier in satter Selbstzufriedenheit und Überfluß weiterlebtet, als gäbe es uns gar nicht.« Meine Stimme war im ganzen Stall zu hören, so außer mir war ich. »Wie konntet ihr nachts überhaupt noch schlafen?« schrie ich. »Ihr Ungeheuer! Ihr gemeinen Ungeheuer!«
    Ich trommelte Colin mit geballten Fäusten an die Brust, bis mir die Knie versagten, und ich schluchzend zusammensank. Augenblicklich nahm er mich in die Arme und hielt mich ganz fest, tröstete mich und gab mir endlich die Fürsorge, die ich zwanzig Jahre zuvor so dringend gebraucht hätte. Ich weinte noch einmal um meinen Vater und meinen Bruder und um meine Mutter, die soviel gelitten hatte. Aber diesmal weinte ich auch noch um ein fünfjähriges kleines Mädchen, das die Tragödie nur hatte überleben können, indem ihm alle Erinnerung daran verlorenging.
    Lange standen wir so, Colin und ich, und das Revers seines Jacketts war bald völlig durchnäßt. Als die Tränen nachließen, schluchzte ich immer wieder: »Ich kann mich nicht erinnern. Ich kann mich nicht erinnern.«
    »Sei dankbar dafür, Leyla«, sagte Colin leise. »Es ist gut, daß du dich nicht erinnerst.«
    Bei diesen Worten löste ich mich von ihm, trat einen Schritt zurück und sah ihm mißtrauisch ins Gesicht. In seinen Augen waren Traurigkeit und Schmerz, aber ich glaubte auch noch etwas anderes zu sehen. Es war nur sehr vage, kaum wahrnehmbar…
    »Du hast mir immer noch nicht alles gesagt.«
    Er wich meinem Blick aus. »Ich habe nichts weggelassen.«
    »Lüge mich nicht an, Colin. Das verdiene ich nicht. Das Schreckliche, was hier geschehen ist, geht mich mehr an, als jeden von euch. Ich habe ein Recht auf die ganze Wahrheit, Colin.«
    Als er mich wieder ansah, wußte ich, daß er mir nun alles sagen würde.
    Und wenn es noch so schmerzlich war, ich mußte es wissen.
    »Die ganze Wahrheit«, sagte Colin bedrückt, »betrifft deinen Vater.
    Oder, genauer gesagt, die Familie Pemberton. Komm, Leyla, setzen wir uns.«
    Er führte mich zu einer Holzbank, wischte sie ab, und dann setzten wir uns. Der Geruch nach Heu und Leder, das leise Schnauben der Pferde, das dämmrige Licht, gab dem Ort etwas Unwirkliches, so, als wären wir weit weit weg, von allen anderen getrennt.
    Leise und monoton drang seine Stimme an mein Ohr, und während er sprach, stiegen Bilder vor meinen Augen auf. »Was du an jenem Tag gesehen hast und heute nicht mehr erinnerst, war etwas, das sich schon früher hier ereignet hat. Wir Pembertons sind mit einem schrecklichen Erbe belastet. Wir tragen alle den Keim einer Krankheit in uns, die sich in Form von Wahnsinn äußert. Dein Vater litt nicht an irgendeinem geheimnisvollen Fieber oder einer plötzlichen und unerklärlichen Krankheit.

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