Lockruf der Vergangenheit
meine Eltern und meinen Stand innerhalb der Familie. Ehe ich Edward heiratete und meine eigene Familie gründete, mußte ich alles wissen.
Schlimme Stunden hatte ich verbracht, seit ich mich von Colin getrennt hatte; Stunden, in denen ich glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. In weniger als achtundvierzig Stunden hatte sich meine ganze Welt so dramatisch verändert, daß ich Schwierigkeiten hatte, mich innerlich auf diese Veränderungen einzustellen. Die seligen Kindheitserinnerungen, die ich hier auf Pemberton Hurst zu finden gehofft hatte, hatten sich als grauenhafte Alpträume entpuppt. Aber nun, da ich mich mit dem schrecklichen Wissen auseinandergesetzt hatte, war ich bereit, meiner Großmutter Abigail gegenüberzutreten.
Ich klopfte laut an ihre Tür, kräftig und selbstbewußt. Ich wollte ihr von Anfang an deutlich machen, daß ich, ganz gleich, welche geheimnisvolle Macht sie über die Familie besaß, meine eigene Herrin war und nicht so war wie die anderen.
Als ich das Zimmer betrat, stellte ich fest, daß meine Vermutungen nicht falsch gewesen waren. Die herrische Macht dieser alten Frau wurde spürbar, sobald ich die Tür hinter mir geschlossen hatte. Es war, als träte man in das klösterlich abgeschlossene Gemach einer mächtigen Tyrannin, die in selbstherrlicher Unzugänglichkeit ihre Fäden spann. »Tritt näher, damit ich dich sehen kann.«
Starr und unbewegt saß sie in einem hohen Lehnstuhl, das Gesicht im Dunkeln. Abigail Vauxhall Pemberton war ganz in Schwarz gekleidet, vom hohen Kragen, der ihren mageren Hals umschloß, bis zu den weiten Röcken, die über ihre Füße zum Boden reichten. Ich näherte mich ihr vorsichtig, mühsam mein Selbstvertrauen bewahrend, und blieb dort stehen, wo ich vermutete, daß es ihrem Wunsch entsprach. »Komm näher, Kind.« Eine kalte, körperlose Stimme aus dem Schatten. »Ich bin achtzig Jahre alt und sehe nicht mehr gut. Wie soll ich dich sehen, wenn du so weit weg stehst.«
Ihre scharfen Worte ärgerten mich; sie deuteten an, daß sie sich innerhalb von Sekunden bereits ihr Urteil über mich gebildet hatte. Als ich noch einige Schritte näher trat und erneut stehen blieb, vergeblich bemüht, einen Blick auf dieses von Dunkelheit umhüllte Gesicht zu erhaschen, fiel mir plötzlich eine Geschichte ein, die ich in der Zeitung gelesen hatte. Ein amerikanischer Seemann namens Perry hatte erzählt, daß der Kaiser von Japan keinem Menschen je sein Gesicht zeigte, weil, wie es hieß, keiner seiner Untertanen wert war, dieses hehre Antlitz zu erblicken. Genauso, wie eine Untertanin dieses Kaisers, fühlte ich mich, als ich jetzt vor dieser in ihrem Lehnstuhl thronenden alten Frau stand, die nicht gewillt schien, mir ihr Gesicht zu zeigen. »Du kommst zögernd. Du hast wohl Angst vor mir?«
»Respekt habe ich, nicht Angst.«
»Noch einen Schritt, Leyla. Das Licht ist schlecht. So ist es besser. Siehst du die Lampe da auf dem Tisch rechts von dir? Drehe sie höher, damit sie dein Gesicht beleuchtet.«
Ich gehorchte, und als ich mich nun wieder meiner Großmutter zuwandte, sah ich, daß das Licht nicht nur mein Gesicht aus der Dunkelheit hob, sondern auch das ihre. Schweigend musterten wir einander über die Kluft der Jahre hinweg, die uns voneinander trennten. Das Gesicht meiner Großmutter unter dem wohlfrisierten, schlohweißen Haar war wachsbleich. Kein Schmuckstück lockerte das strenge Schwarz ihrer Kleidung auf. Aber wenn auch ihre Haut faltig und blutlos war, wenn auch ihre Hände, lang und mager, verknöchert wirkten, wenn sie auch von beinahe erschreckender Magerkeit war, so blitzte doch in den dunklen Augen feuriges Leben. Die Härte dieser Augen sprach von ungebrochener Willenskraft und ließ keinen Zweifel daran, daß diese alte Frau eine alles überwindende Kraft und Energie besaß.
»Wie ähnlich du deiner Mutter bist«, sagte sie leise, als sähe sie ein Gespenst. »Jennifer…«
»Man hat mir gesagt – «
»Kennst du mich?« fragte sie mit zitternder Stimme. »Nein, Großmutter, ich kenne dich nicht. Du bist mir fremd, und doch bist du die Mutter meines Vaters. Dein Blut fließt in meinen Adern, aber wir sind Fremde.«
»Deine Mutter hat nie von mir gesprochen?« Ich schüttelte den Kopf.
»Das ist eine ungezogene Art zu antworten. Colin sähe das ähnlich, aber von dir hätte ich es nicht erwartet. Wenn du mir etwas zu sagen hast, dann erhebe deine Stimme, aber sprich nicht mit deinem Körper. Es gehört sich nicht für
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