Lockruf des Blutes
abgesetzt hat.«
»Woher wussten Sie überhaupt von Ortiz?«
»Wir wollten gerade gehen, als Ortiz zurückkam. Ich habe die Perücke und den Mantel erkannt, die er am Empfang abgegeben hat. Ich habe sie ja erst heute Morgen an einer krummen alten Pennerin unten am Hafen gesehen.«
»Und wo ist Ihr Partner?«
»Begleitet den Polizeichef zur Bürgermeisterin. Er hat keinen Grund dafür gesehen, warum wir beide da hingehen sollten. Schließlich weiß Donovan genauso viel wie ich über die Ermittlungen in diesem Fall.«
Sein Tonfall klingt spöttisch.
Wir fahren den Mission Boulevard in südlicher Richtung entlang, zurück in die Stadt. Bradley verfällt nun in kaltes Schweigen. Wir nehmen den Pacific Coast Highway am Flughafen vorbei, und einen Moment lang glaube ich, dass er zu meinem Büro will. Doch dann biegt er gen Osten auf den Broadway ab, in Richtung Polizeihauptquartier.
Was ich überhaupt nicht verstehe.
»Wo fahren wir denn hin?«, frage ich erneut.
Diesmal antwortet er. »Wir besuchen einen guten Freund von Ihnen.«
Ich sehe ihn stirnrunzelnd an. »Was für einen Freund?«
Es geht am SDPD-Hauptquartier vorbei, weiter den Broadway entlang nach Southeast San Diego. Ich habe schon eine Menge Flüchtige in diesem Viertel aufgespürt, aber hier wohnt niemand, den ich als »Freund« bezeichnen würde.
Southeast ist eine üble Gegend. Das Viertel liegt auf einer Anhöhe mit Ausblick über den Highway 94, und sobald man diese Freeway-Brücke überquert hat, ist man in einer anderen Welt.
Bei Tageslicht sieht es hier beinahe nett aus. Kleine verputzte Häuschen im Ranch-Stil, in diversen Stadien des Verfalls, liegen auf recht großen Grundstücken. Doch wenn man genauer hinsieht, bemerkt man, dass diese kleinen Häuschen von großen Zäunen und Mauern umgeben sind. Die reinsten Betonbunker, eins fünfzig bis eins achtzig hoch, mit verschnörkeltem Schmiedeeisen darauf. Und wie Bunker in Kriegszeiten, so sind auch diese Mauern dazu da, das, was dahinterliegt, vor allem und jedem zu schützen, was hier draußen ist, seien es Polizisten, rivalisierende Drogendealer oder eine entschlossene Kopfgeldjägerin.
David und ich sind nie besonders scharf auf Expeditionen in diese Gegend. Ich kann mir nicht vorstellen, warum Bradley mich jetzt hierherbringt. Aber ich weiß, dass der Grund nicht angenehm sein kann.
Es ist früh am Morgen, die Straßen sind menschenleer. Die Geschäfte, die hier getätigt werden, laufen eher in der Nacht. Die Escalades und Hummers stehen sicher auf ihren Einfahrten hinter verschlossenen Toren, während ihre Besitzer hinter dicken Sicherheitsgittern geborgen schlafen. In einigen Gärten spielen kleine Kinder, begleitet von fies aussehenden Hunden, doch fast überall ist es unheimlich ruhig. Dieses Gefühl macht mich nervös – es ist, als schleiche man auf Zehenspitzen um einen schlafenden Riesen herum, den man lieber nicht wecken möchte.
Bradley scheint sich hier gut auszukennen. Er findet sich im Labyrinth südlich der Market Street locker zurecht und hält schließlich am Straßenrand vor einem rosa verputzten Haus. Das schmiedeeiserne Motiv des Zauns passt zu dem der Gitter vor Fenstern und Türen, Kennzeichen eines »vornehmen« Anwesens. Das Gras im Garten ist gemäht, und es ist sogar grün.
Jemand muss Ausschau nach uns gehalten haben, denn sobald Bradley die Fahrertür öffnet, gleitet auch das Garagentor am Ende der Einfahrt nach oben.
Da sehe ich ihn.
Einen blauen VW.
Ich schaue nach der Hausnummer über dem namenlosen Briefkasten. 3946.
Und nach dem Straßenschild an der Ecke.
Quail Street.
Dies ist Darryl Goodwins Haus. Hier wohnt der Halslose.
Nicht zu fassen, dass ich darauf nicht früher gekommen bin.
Darryl nähert sich dem Tor und lächelt, als wolle er seine Geliebte begrüßen, aufgeregt, begierig, mit strahlenden Augen. »Du bist einen Tag zu früh dran«, sagt er. »Wir wollten uns doch erst morgen treffen.«
Dann sieht er über meinen Kopf hinweg Bradley an. »Hast du ihn?«
Bradley geht nach hinten und öffnet den Kofferraum. Darryl sieht zu, wie er den Laptop herausholt und hochhebt. Er klatscht wie ein kleines Kind über ein gelungenes Geschenk.
Dann wendet er sich wieder mir zu. »Und wo sind unsere jungen Freunde?«
»Was für junge Freunde?«
»Hör mit den Spielchen auf, Anna«, blafft er zurück. »Das passt nicht zu dir.«
Bradley knallt den Kofferraum zu, packt mich am Arm und zerrt mich aufs Tor zu. »Sie hat den Jungen laufen
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