Lockruf Des Mondes
war nicht verheiratet, jedoch immerhin verlobt. Mit einem Mann, der es glattweg abgelehnt hat, dich zu heiraten, erinnerte sie ihr Verstand. War die Verlobung damit hinfällig? Das durfte nicht sein, da Abigails Zukunft auf dem Spiel stand.
»Warum sollten wir dir jetzt glauben, Engländerin? Du bist so oder so eine Lügnerin«, höhnte Ulf.
»Ich lüge nicht.«
Unvermittelt wandte er seine Aufmerksamkeit wieder seinem Bruder zu. »Trotzdem möchte ich wissen, was du dir dabei gedacht hast, diese Frau zu küssen? Sie ist unser Feind, Herrgott noch mal!«
»Sie ist nicht unser Feind, und du wirst gefälligst aufhören, sie so zu nennen.« Lachlans Ton war so schroff, dass Emily fast nicht glauben konnte, dass dies derselbe Mann war, der sie eben noch so liebevoll geküsst hatte.
Ulf dagegen schien völlig unbeeindruckt von den ärgerlichen Worten seines Bruders zu sein. »Ich denke ja nicht dran! Bloß weil du von diesem Tier in dir beherrscht wirst, werde ich bestimmt nicht meine Vernunft für solch niedrige Bedürfnisse wie Sinnenlust aufgeben. Denn was du tust, ist auch für die anderen Soldaten nur zu offensichtlich. Sie sind unten am Strand und schließen Wetten darauf ab, ob du sie schon aufs Kreuz gelegt hast oder nicht.«
Emily zog entsetzt die Luft ein über Ulfs rüde Ausdrucksweise und die Bedeutung seiner Worte. Die anderen wussten, dass Lachlan sie begehrte? Und sie dachten, er hätte sie ... jetzt gerade? Du lieber Himmel, hatten sie denn wirklich nicht gemerkt, dass sie eine gesittete und ehrbare junge Dame war?
Vor ein paar Minuten hatte sie sich allerdings absolut nicht wie eine benommen. Sie hatte die nackte Brust eines Mannes berührt und sogar noch mehr als das tun wollen.
Vielleicht war sie ja verdorben.
»Ich werde nicht von meinem Tier beherrscht, sondern profitiere von ihm«, sagte Lachlan scharf.
»Behauptest du.«
Was sollte dieses Gerede über Tiere? Wollte Ulf damit andeuten, dass Sinnenlust ein Tier war? Der Priester auf dem Landgut ihres Vaters hatte solche Gefühle bisweilen so bezeichnet, aber Ulf schien ihr kein religiöser Mensch zu sein, der die Sünden des Fleisches mied. Wollte er Lachlan nur zu verstehen geben, dass ihn nicht die gleiche Sinnenlust beherrschte, oder einfach nur, dass er bei ihr so etwas nicht verspürte?
Emily vermutete das Letztere und fühlte sich nicht im Mindesten gekränkt deswegen. Erleichtert höchstens.
Ulfs Hohn richtete sich jetzt voll und ganz auf seinen Bruder. »Dann beweis doch deine Überlegenheit, statt sie zu einer Farce zu machen.«
Lachlan seufzte. »Emily ist noch unschuldig.«
Sie runzelte verwirrt die Stirn. Was war ihr jetzt schon wieder vorgeworfen worden?
»Du hast sie also geküsst, um festzustellen, ob sie noch unschuldig ist oder nicht?«, fragte Ulf mit einem Anflug von Respekt in seiner Stimme. »Um zu testen, ob sie die Wahrheit sagt oder nicht?«
»Ja.«
Emily starrte beide Männer mehrere Sekunden an, bevor ihr endlich die Bedeutung ihrer Unterhaltung aufging. Und als es ihr dämmerte, wünschte sie, die Erde möge sich unter ihr auftun und sie verschlingen. Mit hemmungsloser Leidenschaftlichkeit hatte sie auf einen Test reagiert, dem dieser widerliche Laird sie unterzogen hatte, um die Wahrheit ihrer Worte nachzuprüfen! Während sie sich in etwas Schönem - und Bedeutsamem, wie sie geglaubt hatte - verloren hatte, hatte er nur versucht herauszufinden, ob sie die Wahrheit sprach.
Das war demütigend ... und tat weh.
Trotzdem war sie überrascht, dass Lachlan zu dem Schluss gekommen war, sie sei noch unberührt, wenn sie bedachte, mit was für einer Schamlosigkeit sie seine Leidenschaft entfesselt hatte.
»Vielleicht weigert sich Talorc ja auch nur, eine englische Ehefrau anzufassen«, sinnierte Ulf.
»Nicht einmal aus Stolz würde sich ein Chrechte-Krieger weigern, seiner Ehefrau beizuliegen. Seine Ehre erfordert, dass er keine andere anrührt.« Lachlan schüttelte den Kopf. »Nein. Sie ist nicht seine Frau, und wir haben nur ihr Wort darauf, dass sie seine Verlobte ist, doch ich bin geneigt, ihr diesen Teil ihrer Geschichte zu glauben.«
»Bist du sicher, dass sie noch unberührt ist?«
»Er hat sie nicht einmal geküsst.«
Ulf musterte Emily mit spöttisch funkelnden Augen. »So unerfahren ist sie?«
»Sie ist noch unberührt«, sagte Lachlan.
»War sie«, berichtigte Ulf ihn mit einem Grinsen, das besagte, dass er die Handlungsweise seines Bruders jetzt schon fast heroisch fand.
Und warum auch
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