Löcher: Die Geheimnisse von Green Lake (Gulliver) (German Edition)
teilweise abgeblättert, doch Stanley konnte den Namen trotzdem entziffern: Mary Lou .
Auf der einen Seite des Bootes war ein Sandhaufen, an dessen Fuß ein Tunnel begann, der unter das Boot führte. Der Tunnel sah groß genug aus, dass ein größeres Tier hindurchkriechen konnte.
Er hörte ein Geräusch. Etwas bewegte sich unter dem Boot.
Jetzt kam es heraus.
»He!«, rief Stanley und hoffte, ihm damit einen Schrecken einzujagen, damit es sich wieder zurückzog. Sein Mund war so trocken, dass es ihm schwer fiel, so laut zu rufen.
»He!«, antwortete, was immer es war, matt.
Dann erschienen eine dunkle Hand und ein orangeroter Ärmel in der Tunnelöffnung.
35
Zeros Gesicht erinnerte an einen ausgehöhlten Kürbis, den man nach Halloween zu lange draußen stehen gelassen hatte – halb verschrumpelt, mit eingesunkenen Augen und einem verrutschten Grinsen. »Ist das Wasser?«, fragte er. Seine Stimme war matt und krächzig. Seine Lippen waren so blass, dass sie beinahe weiß waren, und während er sprach, schien seine Zunge nutzlos im Mund hin und her zu taumeln, so als ob sie dauernd im Weg wäre.
»Die Flasche ist leer«, sagte Stanley und starrte Zero an. So richtig konnte er es noch nicht glauben, dass das wirklich Zero war. »Ich wollte dir den ganzen Wasserwagen herbringen«, sagte er mit einem dümmlichen Grinsen, »aber ich hab das Ding in ein Loch gesteuert. Ich kann es gar nicht glauben, dass du –«
»Ich auch nicht«, sagte Zero.
»Komm, wir müssen zurück zum Camp!«
Zero schüttelte den Kopf. »Ich geh nicht zurück.« »Du musst. Wir beide müssen.«
»Willst du ein bisschen von meinem Ssplisch?«, fragte Zero.
»Wovon?«
Zero legte den Unterarm über seine Augen. »Unter dem Boot ist es kühler!«, sagte er.
Stanley sah zu, wie Zero in den Tunnel zurückkroch. Es war ein Wunder, dass er noch lebte, aber Stanley wusste, dass er ihn schnellstens zum Camp zurückbringen musste, auch wenn das bedeutete, dass er ihn würde tragen müssen.
Er kroch ihm hinterher. Er konnte sich so gerade eben durchquetschen. Damals, als er nach Camp Green Lake kam, hätte er nie hineingepasst. Er hatte viel Gewicht verloren seitdem.
Als er es durch den Tunnel hindurch geschafft hatte, stieß er mit dem Bein gegen etwas Scharfes, Hartes. Es war eine Schaufel. Eine Sekunde lang überlegte er, wie sie hierher gekommen sein mochte, aber dann fiel ihm ein, dass Zero seine Schaufel mitgenommen hatte, nachdem er Mr. Pendanski damit geschlagen hatte.
Unter dem Boot, das zur Hälfte in der Erde steckte, war es kühler. Im Boden des Bootes – der jetzt das Dach bildete – gab es genug Risse und Löcher, so dass sie Licht und Luft hatten. Stanley sah, dass lauter leere Einmachgläser herumlagen.
Zero hielt ein Glas in der Hand und versuchte ächzend den Deckel aufzudrehen.
»Was ist denn das?«
»Ssplisch!«, antwortete Zero mit matter Stimme und fingerte weiter an dem Deckel. »So hab ich das Zeug genannt. Es lag unterm Boot.«
Immer noch bekam er den Deckel nicht ab. »Sechzehn Gläser hab ich davon gefunden. Gib mir mal die Schaufel.«
Stanley konnte sich kaum bewegen. Er griff hinter sich, packte den Holzstiel und hielt Zero das Schaufelblatt hin.
»Manchmal muss man einfach –«, sagte Zero, bevor er das Glas gegen das Schaufelblatt knallte, sodass der obere Teil des Glases sauber abbrach. Dann hielt er das zerbrochene Glas an seinen Mund, um von den Rändern noch schnell den Saft abzulecken, bevor er hinunterrann.
»Vorsicht!«, warnte ihn Stanley.
Zero hob den abgeschlagenen Deckel ab und leckte auch davon sorgfältig den Saft. Dann reichte er Stanley das kaputte Glas. »Trink was!«
Stanley hielt das Glas in der Hand und starrte einen Moment lang darauf. Er hatte Angst vor dem kaputten Glas. Er hatte auch Angst vor diesem Ssplisch. Es sah aus wie Schlamm. Was immer es war, es musste im Boot gewesen sein, als das Boot unterging. Und das bedeutete, dass es vermutlich über hundert Jahre alt war. Was für Bakterien mochten wohl darin leben?
»Es schmeckt gut«, ermunterte ihn Zero.
Stanley fragte sich, ob Zero wohl schon mal etwas von Bakterien gehört hatte. Er hielt sich das Glas an den Mund und nahm vorsichtig einen Schluck.
Es war ein warmer, prickelnder, etwas zäher Saft, herb und süßlich zugleich. Es war ein himmlisches Gefühl, als das Zeug durch seinen trockenen Mund und in seinen wunden Hals lief. Möglicherweise war es mal irgendeine Frucht gewesen, Pfirsich vielleicht.
Zero
Weitere Kostenlose Bücher