Löwenherz. Im Auftrag des Königs
hinter sich rollen hörte. Sofort fuhr sie herum und erblickte einen Mann, der gerade hinter einem Felsen hervortrat. Sein Kopf und ein Teil seines Gesichts waren mit Tüchern umwickelt, die einen Sehschlitz freiließen. Im nächsten Augenblick wurde Edith von hinten gepackt, der Angreifer hielt ihr den Mund zu und zischte: »Pssst! Keinen Laut!«
Sie wand sich verzweifelt hin und her und erspähte dabei den graubraunen Stoff einer Mönchskutte, aus deren Ärmeln zwei gebräunte Hände ragten und sie festhielten. Mühevoll drehte sie den Kopf und sah den Rand einer Mönchskapuze, die ihr Angreifer übergestreift hatte. Da fiel ihr auf, dass er angelsächsisch gesprochen hatte, mit einem eigentümlichen und doch vertrauten Akzent.
Erleichterung lockerte ihre Glieder. »Bruder Brion!«, flüsterte sie, als die Hand von ihrem Mund genommen wurde.
15
R oger FitzRos, Bastardsohn und ehemaliger Begleiter von Sire Guy de Gisbourne auf der verantwortungsvollen Mission, die Waffenladung für den Sheriff von Nottingham zu übernehmen, hockte in sich zusammengesunken auf einer Truhe. Sein Gesprächspartner saß auf einer anderen Truhe und lehnte sich nonchalant an die Wand.
»Was hätte ich denn tun sollen?«, jammerte Roger. »Einen Mönch umzubringen, ist eine schreckliche Sünde.« Er bekreuzigte sich. »Aber einen Tempelritter abzumurksen, der in Verkleidung auf irgendeiner Mission ist …« Er bekreuzigte sich hastig nochmals, diesmal aber bedeutend inbrünstiger.
»Erzähl mir noch mal die Geschichte von der Waffenlieferung«, sagte Rogers Gesprächspartner, über dessen Knien ein gezogenes Schwert lag.
»Die Waffen sind für den Sheriff von Nottingham. Ihren Zweck hat mir Sire Guy erst verraten, als er beschlossen hatte, die drei Kinder abzufangen. Und diesen Entschluss fasste er sofort, nachdem er das Dokument gelesen hatte, das er … das sich … das er in der Kutte gefunden … heiliger Georg, das Pergament war so voller Blut, dass ich mich wundere, wie er überhaupt irgendetwas darauf entziffern konnte!«
»Schon gut«, sagte sein Gegenüber. »Weiter.«
Roger blickte unglücklich zu Boden. »Sire Guy sagte, ich solle zusehen, dass die Waffen sicher den Sheriff erreichten. Er selbst würde eine Reise unternehmen, die seine Ehre wiederherstellen würde.«
»Wenn jemand wie Sire Guy seine Ehre wiederherstellen will, muss er eine wirklich weite Reise machen. Mindestens bis in die Hölle – und hoffentlich nicht wieder zurück.«
Roger schniefte. »Ich hab genauso wenig Ehre wie er.«
»Das sehe ich anders. Du hast das Richtige getan, nämlich die Waffen nicht nach Nottingham, sondern nach London gebracht, um König Richard zu warnen.«
»Ich habe Sire Guy verraten. Und den Sheriff.«
»Du bist einem Schwur gefolgt, der mehr wiegt – dem gegenüber deinem König.«
»Aber ich hab’s aus Angst vor den Folgen getan und nicht aus Treue!«, rief Roger.
Der Mann mit dem Schwert grinste. »Und du besitzt den Mut, offen zuzugeben, was dich zu dieser Entscheidung bewegt hat. Kanzler Guilhelm de Longchamp wird den Sheriff demnächst in Nottingham aufsuchen und ihn verhaften lassen. Ich gehe davon aus, dass der Sheriff geschickt genug ist, sich rauszureden und irgendeinen Trottel als Sündenbock zu präsentieren. Aber die Gefahr für den Thron ist erst einmal abgewendet.« Der Mann grinste noch breiter. »Und Roger FitzRos kann sicher sein, dass er nicht der Sündenbock des Sheriffs sein wird.«
Roger gab ein resigniertes Geräusch von sich. Der Mann mit dem Schwert hob seine Waffe und drehte und wendete die Klinge. Das Metall schimmerte im Widerschein des Kaminfeuers. Roger schielte auf die blanke Waffe. Unwillkürlich griff er sich an den Hals. Der Mann mit dem Schwert warf ihm einen langen Blick zu. »Hast du sonst noch was zu deinen Gunsten zu sagen, Roger FitzRos?«
Roger schüttelte hektisch den Kopf.
»Du vergisst das Wichtigste: Du hast einem Menschen das Leben gerettet.«
Roger blinzelte. »Das war doch selbstverständlich!«, stieß er hervor. »Als Sire Guy weg war und ich sah, dass er nicht richtig zugestoßen hatte … dass sein Schwert von dem Panzerhemd unter der Mönchskutte abgeglitten war …«
»Selbstverständlich war das?«, fragte der Mann mit dem Schwert lächelnd.
»Wenn man einen Gegner niedergestreckt und schwer verwundet hat, gibt es nur zwei Möglichkeiten«, erwiderte Roger beinahe ärgerlich. »Entweder man gibt ihm den Gnadenstoß oder man nimmt ihn mit und lässt
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