Loewenmutter
denn jedes Mal, wenn ich ihn an die Brust legte, hatte ich das Gefühl, dass er mich noch mehr an meine unglückliche Ehe fesselte. Würde ich dieses Leben nie mehr los? Ich gab dem Kind das Fläschchen, setzte mich auf meine Decke zwischen den aufgestapelten Babysachen und wiegte es an meiner Brust. Ich brauchte Amin ebenso sehr wie er mich. Es hätte ewig dauern können. Füttern, sauber machen, jeden Tag baden – Amin war mein Ein und Alles. Trotzdem kuschelte ich wenig mit ihm. Ist das nicht traurig? Ich liebte ihn unendlich und blieb ihm doch fern.
Ich hatte mich so auf ihn gefreut! Mit ihm würde ich endlich zu einer richtigen Frau. Eine erwachsene Frau, die sich um ihr Kind kümmert. Aber ich hatte nicht das Gefühl, dass ich dieser Verantwortung gewachsen war. Ich verstand mich nicht, erwartete mehr von mir. Da hatte ich endlich jemanden, der mich brauchte. Einen kleinen Kerl, den ich mir sehnlichst gewünscht hatte. Und dann spürte ich eine eigenartige Scheu, spürte ich wenig Nähe. Weil ich selbst nie Nähe bekommen habe! Es dauerte lange, bis ich das begriff.
Liebe war ein Fremdwort in unserer Familie gewesen. An ihrer Stelle standen Gebote, Tabu und Ehre. Ich hatte gelernt, meine Gefühle zu verstecken, damit bin ich groß geworden. Gefühle waren wie der Sand, der täglich mit Wasser aus dem Haus gespritzt wurde. Vor die große Mauer, die sich um den Garten zog. Innerhalb dieser Mauern herrschten die Regeln des Vaters. Regeln waren kalkulierbar, Gefühle unberechenbar und deshalb verboten. Wie sollte ich geben, was ich selbst nie erlebt hatte?
Von neun überlebenden Geschwistern war ich die Frechste gewesen, unglaublich frech. Frecher als alle anderen. Man kann sich das nicht vorstellen, aber ich war die Einzige, die sich traute und den Mut hatte, ins Schlafzimmer unserer Eltern zu gehen. Im Dunkeln, wenn beide schliefen, schlich ich mich langsam und auf Zehenspitzen zum Fußende ihres Bettes. Dort hob ich die Bettdecke an einem Zipfel hoch und schlüpfte zu ihnen ins Bett. Zu ihren Füßen lag ich dann, eingerollt auf kleinstem Raum wie eine Katze. Wie warm es dort war! Meine Mutter und mein Vater traten im Schlaf nach mir, aber ich blieb trotzdem. So groß war mein Verlangen nach ihnen. Nach Wärme. Ich habe mir ihre Nähe und Zuneigung erschlichen, sie haben mich nie dabei erwischt.
Meine Mutter kann gar nicht sagen, wie oft sie schwanger war. War es 15- oder 20-mal? Neun Kinder kamen durch, fünf starben, viele Fehlgeburten, manche wurden abgetrieben. Nur eines weiß sie noch genau. Dass sie nach der vierten Schwangerschaft nicht mehr wollte. Das fünfte Kind war ich. Sie hat alles versucht, um mich loszuwerden: Gift geschluckt, mit Nadeln operiert, doch ich blieb. Wenn sie mir das heute erzählt, lachen wir beide darüber, weil wir verstehen, warum. Trotzdem ist sie durch die Hölle gegangen, eine schlimmere als meine. Ich kann nur ahnen, was sie durchgemacht hat.
Ungefähr zwölf sei sie gewesen, erzählt meine Mutter, aber genau weiß sie es nicht, als sie von den Chefs ihres Clans, zwei Onkeln, verheiratet worden war. An einen älteren Mann. Sie hatte noch nicht einmal ihre Tage. Das hat ihn aber nicht davon abgehalten, sich jede Nacht auf sie zu legen und sie zu vergewaltigen. Mein Gott, sie war doch noch ein Kind. Manchmal versuchte meine Mutter nach solchen Nächten zu fliehen. Sie lief weit und versteckte sich dann im Gestrüpp bei den Schafweiden vor dem Dorf. Aber jedes Mal wurde sie von einem ihrer Onkel aufgegriffen, verprügelt, bis ihr das Blut in Rinnsalen über Rücken und Arme hinunterlief, und zurück zu dem alten Mann gebracht. Erst nach einem Jahr hatte die Familie ein Einsehen mit ihr, und die Ehe wurde geschieden.
Aber auch die neue »Freiheit« meiner Mutter sollte nicht lange dauern. Mit 14 wurde sie zum zweiten Mal verheiratet. Da wehrte sie sich nicht mehr und fügte sich in ihr Schicksal. Ihren ersten Sohn gebar sie mit 15, meinen ältesten Bruder. Ein lieber Mensch, der sehr unter unserem Vater litt. »Männer«, sagt die Mutter heute und lacht, »Männer hasse ich. Alle außer meinen Söhnen.« Uns Kindern hat sie wenig Zuneigung, Vertrauen, Nähe und Wärme entgegengebracht. Das alles ist irgendwo zwischen Vergewaltigung, Demütigung, Schlägen und Depressionen auf der Strecke geblieben. Erst heute können wir uns in den Arm nehmen. Manchmal streicheln wir uns und kuscheln. Als wollten wir nachholen, was nicht nachzuholen ist. Ob meine Mutter je lieben konnte?
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