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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esma Abdelhamid
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schmutziges Kinderzimmer, in dem der grünliche Verputz von der Wand blätterte.
    Ich blieb auf der Schwelle stehen. Es war mir kalt, und ich zitterte, war ausgelaugt. Das hielt ich hier nicht aus! »Was für ein hässlicher Ort.« Ich glaube, ich habe die Worte sogar laut gesagt. Ich wollte nicht mit hinein in dieses Zimmer, unter der Tür drehte ich mich um, lief den dunklen Flur entlang, raus zur Treppe und vor die Eingangstür. Auf die Idee, zu fragen, ob ich über Nacht bei meinem Sohn bleiben könne, wäre ich nie gekommen. Ich war verzweifelt vor Angst und wütend auf Abdullah, der uns in dieser Situation allein gelassen hatte. Mein Vater kam ein paar Minuten später. »Wird schon alles gut werden«, sagte er. Aber ich wollte nichts hören, keinen Trost, nichts denken, nur noch weg von hier, nach Hause und schlafen.
    Natürlich habe ich nicht geschlafen in dieser Nacht, keine Minute. Sondern mich auf der Matratze am Boden unseres ehemaligen Kinderzimmers gewälzt und mir die bittersten Vorwürfe gemacht: Warum hatte ich nicht verhindern können, dass wir auf diesem furchtbaren Bauernhof unsere Ferien verbrachten? Wer weiß, woran Jasin sich infiziert hatte? Aber meinen Mann kümmerte das alles nicht. Der machte sich einfach aus dem Staub, wenn es ernst wurde. Voller Wut ballte ich meine Fäuste unter der leichten Decke.
    Als ich aufstand und mir am frühen Morgen mit beiden Händen Wasser ins Gesicht klatschte und mich in Vaters Rasierspiegel betrachtete, waren meine Augen rot umrändert und die Lider dick geschwollen. Erst als der Vater rief: »Beeil dich, wir wollen Jasin besuchen«, kam Leben in mich. Ich bürstete mein Haar, schlüpfte in ein kurzes Kleid. Vater hatte seine Polizeiuniform angezogen wie immer, wenn er Eindruck machen wollte. Und oft machte er damit tatsächlich Eindruck, und wir wurden wegen der Abzeichen auf seiner Schulter in öffentlichen Einrichtungen und Ämtern bevorzugt behandelt.
    Im Krankenhaus war es still. Schläfrige Stimmung, ein paar Fliegen hinter der Eingangstür taumelten narkotisiert am Boden. Keine Menschenseele war auf den Gängen, die wir hätten fragen können, wie es Jasin ginge. Also drückte mein Vater, ohne zu klopfen, die Klinke zur Kinderzimmertür herunter. Es roch stickig, die Luft war abgestanden. Doch das Bettchen stand noch dort, wo es die Krankenschwester am Abend zuvor hingerollt hatte. Der Infusionsständer daneben war verschwunden, das fiel mir sofort auf. Meine Eingeweide krampften sich zusammen, ich hatte ein Gefühl, als ob ich mich gleich übergeben müsste. Wie schon in der Nacht zuvor blieb ich auf der Schwelle stehen.
    Ich konnte nicht weitergehen durch diese Welle der Angst, die über mich hereinbrach und mich wegzuspülen drohte. Ich wollte nicht hinsehen und verfolgte doch meinen Vater mit den Augen: Sehe, wie er langsam auf das Bett zusteuert. Wie er sich darüber beugt und schaut und sich nicht nach mir umdreht. Da weiß ich: Jasin liegt darin – und er lebt. Mir laufen die Tränen übers Gesicht. Etwas wackelig auf den Beinen stolpere ich los und verfange mich mit den Händen im Bett eines anderen Kindes. Es fängt laut an zu weinen und nach seiner Mutter zu rufen, weil ich es geweckt habe, und gleich stimmen noch zwei oder drei andere Kinder mit ein, sodass ein einziges großes Geheule ertönt. Mein Vater flucht leise, aber mich stört es nicht. Ich stehe am Kopfende von Jasins Bettchen. Er ist wach und lächelt mich an: Ein Gefühl, wie wenn man an einem wolkenlosen Tag einen bunten Ballon am blauen Himmel entdeckt.
    Die Infusionen hatten meinem Sohn das Leben gerettet. Sobald er genug Flüssigkeit aufgenommen hatte, ging es ihm wieder gut, und noch am Abend desselben Tages durften wir ihn mit nach Hause nehmen. Der Arzt gab uns ein Rezept für Medikamente mit, und so seltsam es klingen mag, zur Apotheke ging ich alleine. »Geh du mit Jasin schon voraus«, sagte ich meinem Vater. »Ich mach die Besorgungen.« Er nickte nur, so froh war er, dass er zu Hause einen fast gesunden Enkel würde präsentieren können.
    Welche Ängste hatte ich durchgestanden! »Lieber Gott, ich will solche Sorgen um meine Kinder nicht noch einmal erleben, das ertrage ich nicht«, ging es mir durch den Kopf. Es war, als ob mich die Krankheit meines Sohnes plötzlich aus meiner Starre aufgeweckt hätte: Es reicht! Wozu Kinder, wenn Abdullah in den schlimmsten Situationen so tut, als gingen sie ihn nichts an? Was liegt ihm denn an den Kindern? – Nichts! Aber mir

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