Loewenmutter
nicht gesehen. Mein Vater hatte uns mitten in der Stadt, nicht weit von dem ausgetrockneten Flussbett entfernt, in dem wir als Kinder immer gespielt hatten, einen Bauplatz gekauft.
Meine um ein Jahr jüngere Schwester, Nora, war inzwischen auch aus dem Haus. Sie hatte eine Ausbildung angefangen, wieder abgebrochen, war verheiratet. Und unglücklich wie ich. Als Kinder waren wir wie Zwillinge gewesen, alles haben wir zusammen gemacht. Als ich die Schule abbrach, hat sie auch abgebrochen, und als mein Vater mich mit 16 kurzzeitig auf eine Haushaltsschule schickte, wo ich Stricken lernte, wollte sie auch Stricken lernen. Nora stand Schmiere, wenn ich über die hohe weiße Mauer, die der Vater ums Haus gezogen hatte, um seine Töchter zu schützen, in Nachbars Garten kletterte. Ich rollte ein Fass in die Ecke, zog mich hoch und sprang drüber. Verboten? Egal. Meistens schürfte ich mir die Hände dabei auf. Und meistens kam ich auch sehr schnell wieder zurück, aber immer mit der Sehnsucht, gleich wieder zu gehen. Ich hatte in diesem Garten nichts zu suchen, trotzdem war Nachbars Garten mein größter Traum: Dorthin zu gehen und dort zu bleiben, an diesem Ort, der so friedlich wirkte, an dem Vaters Regeln nicht galten, ein Ort, an dem keiner streng war und wo es keinen Streit und keine Schläge gab. Nur Freiheit. Nichts weiter wünsche ich mir.
Als pubertierende Mädchen waren meine Schwester und ich die größten Freundinnen und die größten Feindinnen zugleich. Einmal, ich erinnere mich, sie war 14, ich 15, war ich auf ihre langen Fingernägel eifersüchtig. So schön waren die. Nicht rot lackiert, das durften wir nicht, höchstens heimlich, meinen Nagellack hatte ich in einem Stoffsäckchen unter der Matratze versteckt. So sehr beneidete ich Nora um ihre Fingernägel, dass ich sie eines Tages, meine Schwester hatte sich zum Mittagsschlaf hingelegt, mit der großen Schere einfach abschnitt. Mitten im Schlaf. Ich glaubte mich im Recht, schließlich hat sie mich mit ihren Nägeln oft gekratzt. Aber sie war wütend und zornig und sprach viele Tage nicht mehr mit mir. Das tat weh, auch wenn ich so tat, als ob es mir gleichgültig sei.
Die Ferien in Tunesien waren eine Zeit, die ich herbeisehnte und vor der ich gleichzeitig Angst hatte. Die Familie, alle Nachbarn glaubten: »Esma ist reich und glücklich in Deutschland.« Eine Lüge, falsch, alles nicht wahr. Aber soll ich das meiner Familie erzählen? Dass ich in Wirklichkeit alleine bin, klein, unnütz, gedemütigt, geprügelt, gefangen wie ein seltenes Tier? Wen geht es was an?
In Gedanken höre ich meine Schwestern feixen: »Die hochmütige Esma, immer wollte sie was Besseres sein – geschieht ihr recht.« Wahrscheinlich tue ich ihnen unrecht damit. Trotzdem habe ich eine Scheu. Soll ich, »die Deutsche«, ihnen unter die Augen treten, ihnen womöglich in die Augen sehen und sagen: »Alles wunderbar« oder »Alles Scheiße«? Nein, das wollte ich nicht. Mein armer Vater. Er war so überzeugt davon gewesen, dass er mir den besten und den reichsten Ehemann besorgt hatte. Ich kann ihn doch nicht enttäuschen, ihm reinen Wein einschenken und sagen: »Deutschland, schön und gut. Aber die Wohnung ist kalt und modrig, mein Mann behandelt mich wie eine Sklavin und prügelt mich, wie du die Mutter geprügelt hast.« Sicherlich würde er dann die Schuld bei mir suchen: »Du bist keine gute Ehefrau, deshalb geht es dir schlecht.« Nein, niemals.
Ich würde kein Wort sagen. Es würde mir ja sowieso keiner glauben. Und wenn doch? Wäre man schadenfroh? Diesen Triumph will ich keinem gönnen. Doch was heißt hier Triumph, in Wirklichkeit schäme ich mich. Weil ausgerechnet ich es so schlecht getroffen habe. Ungerechte Welt. Also nehme ich mir vor zu schauspielern – wie immer. Was soll’s. Indiskrete Fragen mit launischen Sprüchen parieren kann ich doch. »Trägt er dich auf Händen?« – »Nein, aber er fährt mich im Auto spazieren.« Oder: »Lebt ihr gut in Hamburg?« – »In einem Palast mit Angestellten.« Freche Sprüche härten die Seele ab. Das hatte ich schon als Kind gelernt.
Abdullah war stolz auf seine Söhne. Er führte sie zunächst seiner Familie vor, dann setzte er uns drei bei meinen Eltern ab. Alle paar Tage kam er, um nach uns zu sehen. Keine Ahnung, was er sonst trieb. Meistens brachte er Obst und Gemüse vom Markt mit. Während ich dann mit den Schwestern kochte, unterhielt er sich mit meinem Vater: das Haus. Mein Vater hatte ein Konto eingerichtet,
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