Loewenmutter
frische Kuhmilch nicht vertragen. Er erbrach sich, es war erbärmlich und hörte nicht mehr auf. Nach kurzer Zeit schon war er so schlapp, dass er kaum noch die Augen aufmachen konnte.
Ich war hilflos und legte dem Jungen feuchte Tücher auf die Stirn und den Kopf. Mehr konnte ich nicht tun, als in einem fort vors Haus zu laufen und Handtücher in einen Eimer Wasser zu tauchen, den ich aus dem Brunnen gezogen hatte. Ich hatte Angst, große Angst, mein Gott, das Kind, es war doch noch so klein! Und ich betete, was ich schon lange nicht mehr getan hatte. Fünfmal am Tag, auf dem Teppich nach Mekka gerichtet, wie es sich für eine Muslimin gehörte.
Abdullah kam abends, wie immer war er unterwegs gewesen, diesmal um getrocknete Datteln für seine Landsleute in Hamburg zu besorgen. Als ich seine Stimme auf dem Hof hörte, rannte ich hinaus und bedrängte ihn: »Bitte, lass uns zurück zu den Eltern zu fahren. Jasin ist krank, ich habe Angst um ihn. Der Vater wird wissen, was zu tun ist.« – »Warum weißt du das nicht?«, fragte er schnippisch, als ob ihn das Ganze nichts anginge. »Wir hätten Jasin nicht die Milch aus dem Stall zu trinken geben dürfen.« – »Milch hat noch nie einem Kind geschadet.« – »Kennst du einen Arzt hier?« – »Nein.« – »Dann müssen wir zurück. Vielleicht kann ihm auch meine Mutter helfen.« Meine Mutter hatte uns Geschwister öfters von Krankheiten geheilt, später auch meine Kinder. Ich kenne ihre Rituale nicht, weiß nur, dass sie das Heilen von meiner Großmutter gelernt hat. Sie betet, legt den Kindern Kordeln mit Knoten um den Hals und vertreibt böse Geister. Ich glaube fest daran, dass das hilft.
Wir packten unsere Sachen zusammen, füllten Flaschen mit Wasser und fuhren noch in der Nacht zurück. Meine Mutter schüttelte den Kopf, als sie Jasin am nächsten Morgen sah. Sie könne nichts für ihn tun, sagte sie. Wir hatten ihn auf ein Kissen ins Wohnzimmer gelegt. Er trank nichts mehr, die Augen hielt er geschlossen, nur seine Brust hob und senkte sich regelmäßig. Meine Mutter schob ihre hennarot gefärbten Haare zurück, die unter dem Hijab, dem Schleier, hervordrangen, und setzte sich zu dem kranken Kind auf den Boden. Mehr nicht.
Als mein Vater nachmittags von der Arbeit kam und ich ihm Jasin zeigte, wechselte er ein paar Worte mit der Mutter und entschied, zum Arzt zu gehen. Es klingt vielleicht komisch, dass mein Vater diese Entscheidung übernahm, aber Planung und Entscheidung sind Männersache. Auch wenn es darum geht, einen Arzt aufzusuchen.
Abdullah hatte uns wieder alleine gelassen und war zur Hochzeit eines Cousins gefahren. In dem Moment, in dem wir im Hause meines Vaters waren, fühlte er sich nicht mehr verantwortlich. Was mit seinem Sohn geschah, war nun Angelegenheit des Vaters. Ein ungeschriebenes Gesetz.
Inzwischen war es fast Abend geworden, und ich war hysterisch vor Angst. Jasmin röchelte nur noch. Seine Lippen waren aufgesprungen und trocken, er trank nichts. Könnte ich ihn doch nur zwingen! Aber als ich ihm Wasser einflößte, fing er an zu husten. Da nahm mein Vater das Kind auf den Arm, und wir gingen zu Fuß zum Haus eines Arztes. Nicht weit von uns, nur die staubige Gasse hinunter bis zur geteerten Straße. Hühner liefen vor uns her und gackerten. »Sofort ins Krankenhaus«, befahl der Arzt, kaum dass er Jasin gesehen hatte. Er leuchtete ihm in die Augen: »Höchste Zeit. Das Kind braucht eine Infusion.« Wieder nahm es der Vater. Ich ging neben ihm und betrachtete mein Baby. Wie schmal es geworden war, die großen Augen geschlossen, es schlief nur noch. »Der liebe Gott hat’s gegeben. Er wird wissen, wann es wieder vorbei ist«, ging es mir durch den Kopf. Ich wundere mich heute, wie schicksalsergeben ich damals war. Natürlich wollte ich mein Kind nicht verlieren und fühlte mich doch unfähig, etwas zu unternehmen.
Es war schon dunkel, als wir im Krankenhaus ankamen, ein zweckmäßiger, nüchterner Neubau. »Wir können Ihnen nicht sagen, ob das Kind die Nacht überstehen wird«, sagte der diensthabende Arzt, während er Jasin eine Nadel in den Kopf stach, um eine Infusion anzulegen. Mir war schlecht, das konnte ich mir nicht ansehen. Ich flüchtete aus dem Behandlungszimmer und kam erst wieder, nachdem eine Krankenschwester ihn in ein Gitterbettchen gelegt hatte. Was für ein hässliches Bett! Komisch, dass mir das in dieser Situation überhaupt auffiel. Die Schwester meinte es doch nur gut und schob das Bett in ein
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