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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esma Abdelhamid
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aufeinanderrieben. Abdullah fuhr an endlos grauen Lagerhallen aus Beton vorbei in den Fährhafen hinein. Wie schon vor Jahren, als wir zum ersten Mal hier angekommen waren, stellte er sich in die Autoschlange vor der Ablegestelle. »Endstation«, sagte er. Wie zynisch. Ich presste die Hände aufeinander, sie waren steif und kalt wie Steine. Ich hatte Angst. Wie vor Jahren. Damals musste ich mit, jetzt musste ich bleiben. Endstation.
    Mit einem Ruck öffnete ich die Autotür und stieg aus. Jetzt erst merkte ich, wie verschwitzt ich war. Feuchtes Hemd und feuchte Hose, ein tränenüberströmtes Etwas aus Haut und Knochen. Nichts hatte ich bei mir, kein Geld und keine Handtasche. So wie ich mich morgens angezogen hatte, mit Jeans und langem T-Shirt, war ich zu den Kindern ins Auto gesprungen und nicht mehr ausgestiegen. Jetzt schämte ich mich. Ein Nichts war ich.
    Unsicher machte ich die Tür zu, ging um den Wagen herum bis zur Fahrerseite. Mein Mann hatte das Fenster heruntergekurbelt und den Arm aufgestützt. Ich sah ihn nicht an, sondern geradeaus auf die Autos vor uns: »Ich habe kein Geld, um nach Hause zu kommen«, sagte ich tonlos. »Das hättest du dir früher überlegen sollen«, entgegnete Abdullah hämisch. »Kannst du mir trotzdem etwas geben?« Er zögerte, schimpfte vor sich hin. Dann aber langte er doch ins Handschuhfach und zog seine Tasche heraus. Ich sah ihm durch das Fenster zu, wie er sie zwischen seine Beine klemmte. Der Reißverschluss war offen, die Tasche klaffte ein Stück weit auseinander. Und plötzlich … ich hätte schwören können … nein, es war bestimmt keine Einbildung … ich kann es beschwören, dass ich meinen Pass in dieser Tasche sah! Mein Pass zusammen mit seinem und dem von Amal! Drei graue Heftchen. Ich konnte es nicht glauben, das musste eine Einbildung sein. – Mein eigener Mann? Nein, der konnte es nicht gewesen sein. Nicht er!
    Ich hatte den dritten Ausweis nicht wirklich gesehen. Vielleicht mehr gefühlt, aber mit jeder Faser meines Körpers gespürt: Da drin sind meine Papiere. – Aber warum? – So etwas würde mir mein Mann doch nicht antun? Mir den Pass stehlen? Warum sollte er? Ohne dass es mir bewusst wurde, wusste ich: Mein Pass ist in seiner Tasche, er muss ihn mir weggenommen haben. Aber wie? Mein eigener Mann! Warum sollte er mich betrügen? Doch, er hinterging mich! Ließ mich absichtlich in Tunesien sitzen. Alles, nur das nicht! Es gab doch keinen Grund. Er brauchte mich für die Kinder!
    Er liebte mich nicht. Er hat mich geprügelt, vergewaltigt und gedemütigt. Aber mir meine Papiere wegnehmen? War ich nicht schon unselbständig genug? Du musst ihn fragen, dachte ich: »Hast du meinen Pass?« Nein, ich wich zurück. Nicht fragen. Bloß nicht riskieren, dass er mir vor lauter Wut keine neuen Papiere besorgt! Er würde toben vor Zorn. Alles abstreiten, klar. Abdullah hatte mich in der Hand, und an diese Hand klammerte ich mich. Mit den Kindern als Pfand, ich hatte sonst nichts.
    Ich sah ihn an, aber er erwiderte meinen Blick nicht, sondern schaute in die Tasche. Um seine Augenwinkel zuckte es nervös, und ich roch seinen Atem, den er zwischen gelben Zähnen und aufgesprungenen Lippen hinauspresste.
    Hat er mir meine Identität gestohlen? Schlimmer als all seine Schläge empfand ich dieses plötzlich aufkeimende Misstrauen. Diesen furchtbaren Verdacht, den ich für mich behalten musste. Vielleicht war ja alles gar nicht wahr.
    In dem Moment, in dem ich die offene Tasche mit den drei Ausweisen vor Augen hatte, war das Bild auch schon wieder verschwunden. Wie eine Sinnestäuschung, ein Blitzlicht. Im Moment des Hellwerdens schon wieder dunkel. Ich wollte es nicht wahrhaben, deshalb verschwand es sofort wieder. So als hätte ich nichts bemerkt. Erst viel später erinnerte ich mich wieder daran.
    Abdullah kramte tief in seiner Tasche, aber er schüttelte sie nicht und leerte sie auch nicht aus. Vielleicht weil ich sonst gesehen hätte, was ich nicht sehen sollte. Schließlich drückte er mir eine Hand voll Dinare in die Hand, Münzen. »Hier bitte, mehr hab ich nicht«, sagte er und legte die Tasche wieder ins Handschuhfach. Ich habe das Geld genommen, und dann bin ich einfach weggegangen. Ohne noch ein Wort zu sagen.

Verzweifelt
    Wohin? Irgendwohin. Die Münzen in meiner Hand waren kühl, ich rieb und knetete sie wie Steine, das Metall beruhigte mich, und ich konnte mich daran festhalten. Ziellos quälte ich mich die lange Rampe zur Abfertigungshalle hoch.

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