Loewenmutter
mich an ihren Lockenkopf. Ich muss schrecklich gestunken haben nach dieser irrwitzigen Odyssee. Erst weit nach Mitternacht war ich nach Hause gekommen. Bis Kairouan mit dem Bus, weiter hatte mein Geld nicht gereicht. Es war schon dunkel, als ich mich an irgendeine Ausfallstraße stellte, um zu trampen. Verboten in Tunesien, für Frauen sowieso, aber ich wusste mir nicht anders zu helfen. Ziemlich bald hatte mich dann eine Polizeistreife aufgegriffen und mit auf die Wache genommen. Scham ist nur ein schwacher Ausdruck für meine Gefühle in diesem Moment. Die hielten mich für ein leichtes Mädchen.
Mein Vater holte mich ab, nachdem die Beamten ihn angerufen hatten. Er sagte kein Wort, so wütend war er, weil man ihn mitten in der Nacht herausgeklingelt hatte. Erst zu Hause schnaubte er: »Du bringst mich noch ins Grab mit deinem Dickkopf – warum musstest du unbedingt mitfahren?« In dieser Situation konnte ich ihm nicht gut erzählen, dass ich Abdullah in Verdacht hatte, meinen Pass gestohlen zu haben. Überhaupt nichts konnte ich erzählen. Er hätte es mir auch nicht geglaubt. Ich habe ihm nie etwas davon erzählt.
Ich hörte ihn mit den Türen schlagen, drei Türen hintereinander, so verärgert war er. Scheißtüren! Während meiner ganzen Kindheit hatte ich mich hier eingesperrt gefühlt. Und jetzt wieder, hinter diesen Türen und Mauern. Aber ich spürte Amals regelmäßigen Atem an meiner Schulter, und die Tränen liefen mir übers Gesicht. Ein tiefes Verlangen packte mich. Ich hatte Sehnsucht nach einer Mutter, nach meiner Mutter.
Eine Mutter, die mich tröstet, die mir vertraut, die mich in die Arme nimmt und der ich alles sagen kann. Eine Mutter, die mir heiße Milch bringt oder eine Wärmflasche ins Bett legt. Aber eine solche Mutter hatte ich nie gehabt. Meine Mutter war nicht einmal morgens aufgestanden, wenn ich zur Schule musste. Immer war sie müde gewesen, taub und gleichgültig. Ich spürte, wie sich die Kälte des Hauses vom Fußende der Matratze nach oben hin breitmachte.
Am nächsten Morgen hat mich meine Tochter früh geweckt. »Wo ist Amin?«, war ihre erste Frage, »Mama, wo ist Jasin?« Ich drehte mich zu ihr, halb wach, und dachte: Wie soll ich einer Fünfjährigen einen Albtraum erklären? Die Bettdecke habe ich über uns gezogen, sie gestreichelt und ihr gesagt, dass sie mich jetzt für sich alleine haben könne. »Darüber kannst du dich doch freuen, oder?« – »Warum warst du dann gestern den ganzen Tag nicht da?«, fragte sie stattdessen. »Weil ich mich von Jasin und Amin verabschiedet habe. Es wird eine Zeit lang dauern, bis wir sie wiedersehen.« – »Warum hast du mich nicht mitgenommen, ich habe geweint.« – »War’s nicht schön bei Opa?« – »Doch, aber ich will bei dir sein.« Da drückte ich sie an mich und versprach, nie wieder von ihr wegzugehen. Ich versprach auch, mit ihr auf den Spielplatz zu gehen, obwohl es gar keinen Spielplatz in der Stadt gab. Und Gummibärchen, alles, was sie sich wünschte.
Ich konnte nichts tun. Die Zeit schlich und verging doch nicht. Ich wartete. Wieder saß ich vor dem Haus. Wenn jemand vorbeikam und mich fragte, warum ich immer noch hier in Tunesien sei, suchte ich nach einer Ausrede. Das schöne Wetter oder ich wolle warten, bis die Granatäpfel reif seien, oder einfach: Weil es mir hier gefalle. Keiner fragte genauer nach. Fragen ist nicht üblich. Ich war am Verzweifeln und versank immer tiefer in mir.
Drei Tage, vorher hatte es keinen Sinn in Hamburg anzurufen, vorher würde mein Mann nicht dort sein. Auch meine Kinder nicht. Doch wenn nicht in Hamburg, wo waren sie dann? Drei Tage zum Verrücktwerden, diese Ungewissheit. Ich vermisste meine Söhne unsäglich und machte mir die größten Sorgen, konnte aber mit keinem darüber reden. Was, wenn sie nicht angekommen waren? Von hier aus würde ich nicht einmal nach ihnen suchen können. Dieser Gedanke machte mich wahnsinnig. Ich hatte Angst anzurufen, konnte es aber gleichzeitig kaum erwarten. Es gab nur die Möglichkeit, von der Post aus zu telefonieren. Während der Öffnungszeiten von 8 bis 18 Uhr. Wenn die eine von zwei öffentlichen Telefonzellen nicht funktionierte, nahm man die nächste. Meistens waren beide kaputt.
Das erste Mal ging ich vormittags, 20 Minuten Fußweg. Der Mann hinter dem Tresen wechselte mir Geld. Eine dunkelbraune Schwingtür, ich wählte, es klingelte, unzählige Male, keiner nahm ab. Nach zehn Minuten wieder, zehn Minuten später noch einmal und 20
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