Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esma Abdelhamid
Vom Netzwerk:
Minuten später wieder. Jedes Mal ließ ich es viele Male klingeln, aber am anderen Ende rührte sich niemand. Der Telefonhörer in meiner Hand fühlte sich glitschig an. Die Kinder sind in der Schule, mein Mann sicher auf der Arbeit, dachte ich. Ich war deprimiert. Irgendwann machte ich mich auf den Rückweg.
    Am nächsten Tag wollte ich es nachmittags versuchen. Lief wieder die 20 Minuten zu Fuß. Ich rief an, keiner meldete sich, ich wartete, rief wieder an, und immer so weiter. Mein Herz schlug bis zum Hals, und dann geschah nichts. Wie ein Luftballon, der zerplatzt, bevor er aufgestiegen ist. Die Spannung war unerträglich. Jeden Tag ging ich nun los. 20 Minuten bis zur Post, dann nichts, keiner da. Vormittags dachte ich immer, Abdullah müsste doch zu Hause sein. Nachmittags hoffte ich, dass die Kinder da wären. Sollten sie normalerweise auch, aber sie waren es nicht.
    Ich fing an, Selbstgespräche zu führen. Wie eine Irre bin ich gelaufen, die Hände gefaltet und vor mich hin betend. »Sie sind da, gleich wirst du mit ihnen sprechen, es geht ihnen gut, gleich wirst du mit ihnen sprechen, es geht ihnen gut.« Als könnte ich Jasin und Amin mit Beschwörungsformeln herbeireden. Manchmal heulte ich auch, und meine Sorgen wuchsen himmelhoch. Ich habe mir vorgestellt, dass meine Söhne gar nicht in Hamburg, sondern woanders gelandet wären, entführt seien und mein Mann auf der Suche nach ihnen.
    Nach einer Woche sprach ich mit meinem Vater. »Wir müssen es abends versuchen«, meinte er. »Von einer öffentlichen Telefonzelle aus.« Da ich als Frau abends nicht alleine auf die Straße gehen konnte, wollte er mitkommen. Es war schon dunkel, immer noch warm. In den Cafés und den kleinen Läden gingen die Lichter an. Männer in dunklen Lederjacken waren in Grüppchen unterwegs. Mein Herz raste. Als ich die Nummer tippte, fing ich dreimal von vorne an, weil ich Angst hatte, mich zu verwählen. Das Rufzeichen tönte, einmal, zweimal, dann klickte es: »Hallo, hallo, hier ist Mama«, sagte ich auf Deutsch und »die Ummi, hier ist Ummi, salam, salaaaaam« auf Tunesisch. Ohne jemanden zu hören und ohne auf eine Antwort zu warten, stammelte ich immer wieder das Gleiche in den Hörer, so als hätte ich viele Worte nachzuholen.
    Erst als ich eine Atempause machte, drang eine Stimme zu mir durch. Eine fremde Stimme, mit der ich nicht gerechnet hatte. »Doch verwählt … «, ging es mir spontan durch den Kopf, während die Stimme fragte, »Hallo, wer ist denn dran? Hier ist El Hemla.« Eine Frauenstimme, ganz fremd, oder doch nicht? Ich kannte sie, war aber zu aufgeregt, um etwas dazu zu sagen, nur: »Kann ich meine Kinder sprechen, ich will mit Amin und Jasin sprechen.« – »Das geht nicht, sie schlafen schon. Das müsstest du als Mutter doch wissen.« – »Ich vermisse sie aber. Wie geht es ihnen?« – »Lass sie in Ruhe. Sie stehen früh auf morgens und gehen zur Schule.« – »Hol sie mir trotzdem, ich will mit ihnen sprechen.« – »Nein, geht nicht.« – »Und wo ist mein Mann.« – »Auf Arbeit.«
    Ich war geschockt. Meine Kinder oder meinen Mann hatte ich am Telefon erwartet, nicht diese Frau. Was bedeutete das? Trotzdem traute ich mich nicht zu fragen: »Was machst du denn bei uns?« oder »Warum bist du da?« Es war eine Algerierin, wir hatten sie irgendwann bei Aldi kennengelernt. Ein paar Landsleute standen um sie herum, weil sie weinte. Ohne Geld, auf der Straße, erzählte sie, ihre Mutter habe sie hinausgeworfen. Mitleid hatten wir, die Arme, und dieses Gefühl, »wir Ausländer stehen zusammen«. Ich lud sie sogar ein vorbeizukommen. Sie kam auch ein paar Mal, als mein Mann da war. Aber ich dachte mir nichts dabei.
    Nun genierte ich mich, sie nach meinen Kindern zu fragen. Mein Magen krampfte sich zusammen, und sofort war dieses Gefühl wieder da, das ich auch am Hafen beim Abschied von Abdullah gespürt hatte: das Misstrauen und dieses »Jetzt-bloßnichts-Falsches-sagen-sonst-siehst-du-deine-Kinder-nie-wieder«. Ich zwang mich sogar, freundlich zu sein. Aber meine Stimme war mir fremd, als ich zögernd sagte: »Na dann, dann ruf ich ein anderes Mal wieder an.« – »Kannst du versuchen, ja«, hörte ich sie und dann nichts mehr. Aufgelegt, das war’s.
    Als ich aus der Telefonzelle kam, kläfften die Straßenhunde wie immer in der anbrechenden Nacht, und irgendwo antwortete das gellende Wiehern eines Esels. Die Töne kamen von weit her und lullten mich ein. Ich war ganz benommen, doch mein Vater

Weitere Kostenlose Bücher