Lola Bensky
»Meine Mutter sagte, dass die Häftlinge, die im Labor arbeiteten, manchmal von Fleischstücken sprachen, die weder Haare noch ein Fell hatten und dort verwendet wurden. Meine Mutter interessierte sich für Medizin. Sie wollte Kinderärztin werden. Sie wollte gerade ihr Medizinstudium beginnen, als sie verhaftet wurde.«
»Wurde sie später Kinderärztin?«, fragte Mick Jagger.
»Nein. Sie hat in einer Kleiderfabrik gearbeitet«, sagte Lola.
»Was haben sie in der Nährlösung gezüchtet?«, fragte Mick Jagger.
»Sie züchteten Erreger von Lungenentzündung, Typhus, Cholera und anderen Krankheiten, um sie den Häftlingen zu injizieren, als Experiment«, sagte Lola. »In Block 10 experimentierten sie hemmungslos. Überall liefen Menschenversuche. Organe und Gliedmaßen wurden entfernt. Den Men
schen wurde Gift injiziert. Menschen wurden tiefgefroren und wieder aufgetaut.«
»Sie haben es zum Spaß getan«, sagte Renia immer. »Wie Kinder, die ihr Essen auf den Fußboden werfen, weil es Spaß macht und der Fußboden da ist.« Lola fühlte sich unwohl in ihrer Haut. Die Vergangenheit ihrer Familie war so unschön. Eine einzige große Misere. Sie wäre gerne aus einer Familie gekommen, die Regale voller Bücher und ein Klavier besaß und ihre Ferien am Meer verbrachte.
Sie hatte keine Ahnung, dass sie aus genau so einer Familie stammte. Sie hatte keine Ahnung, dass die Familie ihres Vaters Hunderte und Aberhunderte Bücher auf Polnisch, Russisch und Jiddisch besessen hatte oder dass sie die Ferien am Meer verbracht hatte oder dass das Klavier ein reich verzierter Bösendorfer Stutzflügel gewesen war.
Lola warf einen Blick auf ihre Fragen. Sie hatte unzählige Fragen. Sie hatte über Leichen geredet, denen man Fleisch herausgerissen hatte, und über Nazis, die Fleisch gestohlen hatten, das für Experimente bestimmt war. Aber sie hatte Mick Jagger nicht nach seinem Verhältnis zu Brian Jones oder Keith Richards befragt. Was machte sie da eigentlich gerade? Sie sprach so gut wie nie über diese Dinge. Sie sprach zu Hause nicht darüber. Ihren Kollegen bei Rock-Out hatte sie nie davon erzählt. An der hochgelobten Highschool, die sie in Melbourne besucht hatte, fiel nie jemandem auf, dass Lola und etliche andere in den Klassenzimmern eine persönliche Beziehung zur jüngsten Geschichte hatten. Es war ein Thema, über das niemand sprach, außer den paar einsamen Überlebenden, die Selbstgespräche führten. Und sie saß hier und redete mit Mick Jagger über Kohl im Ghetto von Lodz.
»Ich bin noch nie jemandem begegnet, dessen Eltern Auschwitz überlebt haben«, sagte Mick Jagger.
»Ich nehme an, es gibt nicht viele von uns«, sagte Lola. »Die meisten Juden in den Vernichtungslagern wurden ermordet.«
»Hatten deine Eltern Geschwister?«, fragte Mick Jagger.
»Ja, beide«, sagte sie. »Meine Mutter hatte drei Schwestern und vier Brüder.«
»Was ist aus ihnen geworden?«, fragte er.
»Sie wurden alle ermordet«, sagte sie.
Sie fühlte sich mies. Die Antwort war so trostlos. Vielleicht hätte sie eine Geschichte erfinden und sagen sollen, dass es allen, Tante Bluma und Tante Malka und Tante Hinda, gut ging. Und dass Onkel Abramek, Onkel Felek, Onkel Jacob und Onkel Shimek in Melbourne lebten und oft gemeinsame Ausflüge unternahmen.
»Es muss schwer gewesen sein, in einer solchen Familie aufzuwachsen«, sagte Mick Jagger.
»O nein, es war nicht so schlimm«, sagte Lola. »Ich dachte, alle Mütter würden nachts aufwachen und auf Jiddisch nach ihrer Mutter rufen.« Sie wünschte, sie hätte das nicht gesagt. Sie wünschte, sie hätte etwas nennen können, das sie und Renia gemeinsam unternahmen. Zum Beispiel kochen. Doch die Zubereitung der jüdischen Gerichte ihrer Kindheit war nichts, das Renia mit Lola teilen konnte. Renia bereitete ihre Latkes, ihre Hühnerleber und ihre Hühnersuppen in einem undurchdringlichen Kokon aus Töpfen, Pfannen, Kellen und hölzernen Kochlöffeln zu. Sie musste Mick Jagger jetzt wirklich nach seiner Beziehung zu Keith Richards und Brian Jones fragen.
»Möchtest du eine Tasse Tee?«, fragte Mick Jagger.
»Sehr gern«, sagte sie. Sie folgte ihm in die Küche. Mick Jagger hatte sich über die Ausstattung seiner Wohnung offensichtlich viele Gedanken gemacht. Es war die schickste Küche, die Lola je gesehen hatte. Nicht dass sie schon viele Kü
chen gesehen hätte. An der Wand in Mick Jaggers Küche hingen rot emaillierte, gusseiserne Töpfe, und der Kühlschrank war riesig. Sie
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