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Lola Bensky

Lola Bensky

Titel: Lola Bensky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lily Brett
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diente, die Frauen zu demütigen. »Man erlaubte uns, abends nach Hause zu gehen«,
sagte Edek. »Alles war immer noch ein bisschen normal.« Ein paar Monate später wurden sie aus ihren Häusern vertrieben und mussten ihren Besitz zurücklassen. Sie kamen ins Ghetto von Lodz.
    Für Renia und Edek brach eine lange Zeit an, in der nichts in ihrem Leben normal sein würde. Nicht normal und nicht alltäglich.
    »Im Ghetto keiner hatte eine Katze«, sagte Edek eines Tages aus heiterem Himmel zu ihr. Lola hatte nicht nach einer Katze gefragt. Sie wollte keine Katze. Sie konnte sich nicht erinnern, je mit Edek über Katzen gesprochen zu haben. »Nur die Leute in der Lebensmittelausgabe, die durften Katzen haben«, sagte Edek. »Die Katzen mussten auch arbeiten für ihre Ration, wie die Gefangenen. Aber für ihre Arbeit, Mäuse fangen, sie bekamen ein Kilogramm Frischfleisch jede Woche. Ich habe ein paar Monate in der Lebensmittelausgabe gearbeitet, und wir waren neidisch auf die Katzen, ich und die anderen Arbeiter. Wir hatten kein Fleisch. Wir hatten Kohlrüben und Rettich und grässliche dünne Suppe. Also habe ich beschlossen, eines Tages, ich stehle das Fleisch von der Katze. Und was glaubst du? Genau in dieser Woche war das Fleisch für die Katzen aus. Jetzt hatte keiner Fleisch, nicht einmal die armen Katzen.« Am Schluss der Geschichte wollte Edek sich schier ausschütten vor Lachen. Lola fand sie nicht lustig.
    »Ich weiß seltsame Dinge über die Vergangenheit meiner Eltern«, sagte Lola zu Mick Jagger. »Ich weiß, dass das Ghetto zu einem bestimmten Zeitpunkt eine riesige Kohllieferung bekam. Gemüse war knapp und unerschwinglich teuer. Aber plötzlich wurde das Ghetto von Weißkohl überschwemmt. Ungefähr zweihundert Kilo. Der Kohlpreis fiel. Die Gefangenen, die sechs Monate arbeiten mussten, um sich auf dem
Schwarzmarkt einen Laib Brot kaufen zu können, bekamen plötzlich dreimal am Tag Kohl. Mein Vater sagte, das ganze Ghetto habe nach Kohl gestunken, und alle liefen mit aufgeblähten Bäuchen herum. Dann wurde allen übel. Auf die Übelkeit folgte bald der Durchfall.«
    »Das ist traurig«, sagte Mick Jagger.
    »Das ist keine von den traurigen Geschichten«, sagte Lola. Mick Jagger wirkte beunruhigt.
    »Welche Geschichten gab es denn noch?«, fragte er.
    »Es waren eigentlich keine Geschichten«, sagte Lola. »Ich hätte sie nicht Geschichten nennen sollen. Es waren einfach Dinge, die meine Eltern erzählten.«
    Sie zögerte. Sie war gekommen, um Mick Jagger zu interviewen, nicht, um über das Ghetto von Lodz oder über Auschwitz zu reden. Sie begann, sich unwohl zu fühlen. Sie war sich sicher, dass Mick Jagger nicht noch mehr über aufgeblähte Bäuche oder Vernichtungslager hören wollte.
    »Was haben deine Eltern erzählt?«, fragte er.
    »Seltsame Dinge«, sagte sie. »Meine Mutter sprach immer davon, aber so, als würde sie Selbstgespräche führen, dass sie in Auschwitz Menschenfleisch anstatt Tierfleisch als Nährmedium für Kulturen benutzten. Sie hat es mir nicht richtig erklärt, sondern nur gesagt, dass es im Hygieneinstitut in Block 10 war und dass das Nährmedium eine Substanz ist, in der Bakterien oder andere Mikroben gezüchtet werden. Ein bisschen wie ein Blumenbeet, in dem man Blumen züchtet.«
    Wieso redete sie von Blumen und Blumenbeeten? Sie hatte vorher schon von Pflanzen gesprochen. Mick Jagger würde noch denken, sie sei eine leidenschaftliche Gärtnerin. Sie hatte keine Ahnung von Gartenarbeit. Sie wusste, wenn man Bakterien züchten wollte, musste man Nährstoffe und eine gute
Umgebung bereitstellen, um sie am Leben zu halten. Wissenschaftler benutzten dafür eine Nährflüssigkeit aus Fleischextrakt, hatte Lola Renia sagen hören. In Auschwitz war Menschenfleisch entbehrlicher als Tierfleisch. Renia sagte, dass SS -Leute das für sogenannte wissenschaftliche Zwecke zur Seite gelegte Tierfleisch unweigerlich stahlen. Lola wusste das alles, weil sie Fetzen von Renias Selbstgesprächen mitbekommen hatte.
    »Meine Mutter sprach von vier Frauen aus ihrer Baracke, die erschossen wurden, und dass sie eine halbe Stunde später ihre beiseitegeworfenen Leichen sah, aus denen große Fleischstücke herausgeschnitten waren. Mit einer davon war sie als Mädchen zur Schule gegangen«, sagte Lola.
    Mick Jagger wirkte fassungslos. Lola dachte, dass sie besser das Thema wechseln sollte.
    »Ist das etwas, worüber viele Leute Bescheid wissen?«, fragte er.
    »Ich weiß es nicht«, sagte Lola.

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