Lola Bensky
die sie gelernt hatte. Sie sei als Kind früh entwickelt gewesen und habe bereits mit zehn Monaten gesprochen, erzählte Renia immer. Auschwitz war in dem Lager für Displaced Persons, in dem Lola geboren wurde, wahrscheinlich ein verbreitetes Thema. Die Menschen wurden ermutigt, darüber zu sprechen. Es war Teil der biografischen Information, die man von den Überlebenden der Nazi-Vernichtungslager sammelte.
Ein paar Jahre später würden die meisten Überlebenden aufhören, über Auschwitz zu sprechen. Sie würden niemals aufhören, daran zu denken. Und von Zeit zu Zeit würden kleine, explosive Bruchstücke und Fragmente dieses kranken, missgebildeten Universums aus ihnen hervorbrechen.
»Die arme Ida, sie wünschte sich so sehr ein Kind«, sagte Renia jedes Mal, wenn ihre Freunde Ida und Yitzak Stein nach einem Besuch wieder nach Hause gingen. Als Lola sie einmal fragte, warum Ida keine Kinder bekommen habe, hatte Renia beinahe unhörbar geflüstert: »Weil sie versucht haben, ihre Gebärmutter zuzukleben.«
Lola wusste immer, wer mit »sie« gemeint war. Die Gestapo, die SS -Obersturmbannführer und Sturmbannführer und
Obersturmführer und die Kapos, die Juden aus den Barracken und vom Appell und von den Arbeitseinsätzen wegzerrten, damit sie ermordet oder nutzlosen, pseudomedizinischen Experimenten unterzogen werden konnten. Später würde sie von zahlreichen deutschen Ärzten lesen, die in Auschwitz hemmungslos experimentiert hatten, darunter ein Professor Dr. Carl Clauberg, der unter dem Deckmantel der Erforschung von Sterilisationsmethoden vielen Frauen Chemikalien in den Unterleib spritzte, um ihre Gebärmutter zu verschließen.
Lola fühlte sich miserabel. Sie konnte nicht fassen, wie Renia auf die Nachricht reagierte, dass sie den Mann verlassen wollte, von dem Renia, wie Lola glaubte, ursprünglich gehofft hatte, dass sie ihn gar nicht erst heiraten würde. Sie hoffte sehr, dass ihre Mutter sich nicht wirklich wünschte, sie wäre besser in Auschwitz gestorben.
Edek verließ das Zimmer. Lola dachte, dass er wahrscheinlich verschwand, um einen seiner Kriminalromane zu lesen, Bücher mit Titeln wie Das blutige Fass oder Fünf tote Frauen oder Wende des Schreckens . Vielleicht machte Edek sich auch auf die Suche nach einem Stückchen Schokolade.
»Es ist nur eine Schwärmerei«, sagte Renia, als wäre ihr plötzlich der Gedanke gekommen, dass Lola eine Affäre haben könnte. »Keine Liebe. Ich war auch einmal in jemanden verliebt und habe deinen Vater trotzdem nicht verlassen.« Lola wollte das nicht hören. Sie wollte nichts darüber hören, wie Renia ihr zuliebe ihr eigenes Glück geopfert hatte. Edek betete Renia an. Warum musste Renia dieses Bild trüben? Das Bild war auch so schon trübe genug.
»Du warst für uns das Beispiel, dass gemischte Ehe kann funktionieren«, sagte Edek, als er mit Schokolade im Mundwinkel zurückkam.
»Nächstes Mal gebe ich mir mehr Mühe«, sagte Lola. Denn ein nächstes Mal würde es geben. Das wusste Lola. Sie verließ Mr. Ex-Rockstar, weil sie einen anderen liebte. Wirklich liebte, dachte sie.
5 »Du hast alles«, sagte Patrice Pritchard zu Lola Bensky. Lola Benskys Brustkorb verengte sich. Ihre Rippen fühlten sich an wie Finger, die ihre Lungen fest umklammerten. »Du hast alles«, sagte Patrice Pritchard noch einmal. »Du siehst fantastisch aus, du hast einen Mann, der dich anbetet, du hast tolle Kinder, und du wohnst in SoHo.«
Patrice, eine leitende Lektorin bei Oliver & Joseph, einem internationalen Verlagskonzern, war sehr dünn, sehr blond und sehr ernst. Sie war Lolas Lektorin. »Niemand hat alles«, sagte Lola in einem Ton, von dem sie hoffte, dass er eher wehmütig als kurz angebunden klang. Sie versuchte, tief Luft zu holen, doch ihr Brustkorb gab nicht nach.
»Und dünn bist du auch«, sagte Patrice mit einer gewissen Leidensmiene. »Ich gehe jeden Tag zwei Stunden ins Fitnessstudio, damit ich essen kann. Ich bin dreiundvierzig und warte immer noch auf den Richtigen und darauf, eine Familie zu gründen.«
»Ich bin nicht dünn«, sagte Lola mit schriller Piepsstimme. »Ich bin nicht dünn«, versuchte sie es noch einmal und räusperte sich. Lola war einundfünfzig, fast zweiundfünfzig. Sie sollte aus dem Alter heraus sein, in dem man mit einer Piepsstimme sprach.
Der Grund, warum Lola inzwischen eine Lektorin hatte, war der, dass sie ein Buch geschrieben hatte. Ein Buch mit dem Titel Das ultraprivate Detektivbüro . Lola wusste nicht,
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