Lola Bensky
gewöhnt.« Mama Cass wirkte ein wenig müde. Als forderten die vielen Verunglimpfungen, Kränkungen und Scherze ihren Tribut.
»Was für eine Diät machst du gerade?«, fragte Lola Mama Cass.
»Ich mache sie noch nicht lange«, sagte Mama Cass. »Ich faste an vier Tagen in der Woche, meist von Montag bis Donnerstag. Ich trinke nur Wasser. An den drei anderen Tagen esse ich morgens eine Portion Hüttenkäse und zum Abendessen ein Steak mit grünem Gemüse oder einen Apfel.«
»Das ist eine sehr strenge Diät«, sagte Lola.
»Nach einer Weile will ich ganz langsam wieder mehr essen«, sagte Mama Cass. »Aber nicht mehr als tausend Kalorien pro Tag.«
»Ich könnte mich tagelang mit dir über Kalorien unterhalten«, sagte Lola. »Ich bin ein wandelndes Lexikon, was den Kaloriengehalt verschiedener Lebensmittel betrifft. Es ist ein bisschen trist.«
»Ich bin es leid, dick zu sein«, sagte Mama Cass. »Ich bin es leid, dass meine Freunde mir sagen, jeder Mann, mit dem ich zusammen bin, sei nur an meinem Ruhm oder meinem Geld interessiert.« Mama Cass sah tatsächlich müde
aus. »Es ist, als würden fast alle, die ich kenne und die es toll finden, mit mir rumzuhängen und Spaß zu haben, mich für zu dick halten, als dass irgendjemand mit mir zusammen sein wollte oder sich in mich verlieben könnte«, sagte Mama Cass.
»Ich bin mir sicher, dass das nicht stimmt«, sagte Lola.
In Monterey hatte Lola nur die fröhliche, großzügige, begeisterte und angeregte Seite von Mama Cass kennengelernt. Lola fühlte sich elend. Sie glaubte, dass sie Mama Cass' Traurigkeit heraufbeschworen hatte.
An dem Haus, in dem Lola ihr Apartment gemietet hatte, gab es einen kleinen Hof. In diesem Hof saßen ein halbes Dutzend Leute und rauchten Joints. Lola kam es vor, als kiffte in Los Angeles jeder. Obwohl, vielleicht nicht jeder. Die Leute, die bei den neun Banken arbeiteten, die sie auf der Suche nach ihrem Geld abgeklappert hatte, sahen nicht so aus, als kifften sie. Doch hier, auf dem Sunset Strip, war die Luft mit Marihuana gesättigt. Lola ging in ihr Apartment, um Renia eine Ansichtskarte zu schreiben.
Die Zeile I hope I die before I get old aus »My Generation« von The Who ging Lola nicht mehr aus dem Kopf. Sie konnte sie nicht zum Schweigen bringen. Sie versuchte, die Melodie von »Humpty Dumpty« zu summen, die sie davor tagelang nicht aus dem Kopf bekommen hatte; jetzt wäre sie ihr lieber gewesen als I hope I die before I get old . Es klappte nicht.
Lola hatte genug vom Tod. Sie war damit aufgewachsen, dass die Toten ihr ständig im Kopf herumgeisterten. Sie wollte nicht, dass jetzt auch noch Pete Townshend in diesen Chor einfiel. Was, wenn es einen Gott gab und er den Text ernst nahm? Lola wollte nicht sterben. Insbesondere nicht, bevor sie alt war.
Renia hatte nach dem Krieg sterben wollen. Sie hatte versucht, sich umzubringen. Sie war irgendwo in Deutschland bis zur Mitte einer Brücke gegangen und hatte versucht hinunterzuspringen. Sie konnte nicht schwimmen. Sie wusste, dass sie ziemlich schnell ertrinken würde. Sie wusste, dass ihre Eltern, ihre Brüder und Schwestern tot waren. Ertrinken erschien ihr als keine schlechte Option. Doch sie konnte nicht springen, erzählte sie Lola, bevor sie nicht herausgefunden hatte, ob Edek noch am Leben war.
Lola war sich sicher, dass Renia sich häufig gewünscht hatte, sie wäre tot. »Warum habe ich überlebt?«, sagte sie immer wieder zu Lola, als Lola noch klein war. »Warum habe ich überlebt, und sie sind gestorben?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Lola dann manchmal.
»Ich weiß es auch nicht«, erwiderte Renia jedes Mal.
Renia, das wusste Lola, fühlte sich elend, weil sie überlebt hatte, während alle anderen in ihrer Familie gestorben waren. »Du solltest stolz darauf sein, dass sie dich nicht auch noch umgebracht haben«, sagte Lola zu Renia, als sie ungefähr dreizehn war. Renia ging in die Luft.
»Ich soll stolz darauf sein, dass ich zugesehen habe, wie meine Schwester und mein Vater ermordet wurden?«, schrie sie beinahe. »Da gab es nichts, auf das man stolz sein könnte. Worauf sollte ich stolz sein? Dass ich Tausende von Leichen in riesigen Gruben verbrennen sehen habe, als die Krematorien zu überfüllt waren, um noch mehr zu verbrennen? Soll ich stolz darauf sein, dass ich Kinder auf dem Boden sitzen sehen habe, die an Beinen, Armen, Zehen und Fingern Wundbrand hatten? Wundbrand, den die Ärzte mit einem ihrer wahnsinnigen Experimente verursacht
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