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Lola Bensky

Lola Bensky

Titel: Lola Bensky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lily Brett
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aus Renias Gedächtnis ausradieren. Am liebsten hätte sie es einfach weggewünscht. Lola fand es deprimierend, dass Wünschen nicht funktionierte.
    »Wenigstens werde ich nicht mehr von wildfremden Menschen verhöhnt«, sagte Mama Cass. »Als ich noch als Kellnerin gejobbt habe, musste ich mir Sachen anhören wie: Hey Fettsack, hast du unsere Bestellung vergessen, oder hast du alles selbst aufgegessen?«
    »Heute klingt das komisch«, sagte Lola. »Aber ich weiß, dass es damals sicher überhaupt nicht komisch war.«
    »Als Kind war ich dünn und keine besonders gute Esserin, bis ich sieben war und meine Schwester zur Welt kam«, sagte Mama Cass. »Ich war sieben Jahre lang ein Einzelkind, und ich glaube, es war nicht leicht für mich, meine Eltern zu teilen. Ich glaube, ich dachte damals, ich würde meinen Eltern eine Freude machen, wenn ich ordentlich äße. Und dann habe ich einfach nicht mehr damit aufgehört. Mit siebzehn wog ich achtzig Kilo. Außerdem hat meine Großmutter, die in Polen Armut erlebt hatte, immer alle gefüttert«, sagte Mama Cass. »Außer mir wurde aber niemand dick davon.«
    »Meine Eltern sind aus Polen«, sagte Lola. »Aus Lodz.«
    »Bist du dort geboren?«, fragte Mama Cass.
    »Nein«, sagte Lola. »Ich wurde in Deutschland geboren. Aber ich bin keine Deutsche«, fügte sie hinzu. »Ich wurde nach dem Krieg geboren.«
    »Waren deine Eltern im Lager?«, fragte Mama Cass.
    »Ja, in Auschwitz«, sagte Lola.
    »Das tut mir leid«, sagte Mama Cass.
    »Mir auch«, sagte Lola.
    »Meine Eltern haben während des Krieges Flüchtlinge aus Polen, Deutschland und Russland aufgenommen«, sagte Mama Cass.
    »Diese Flüchtlinge sind wahrscheinlich gerade noch rechtzeitig weggekommen, bevor es unmöglich wurde«, sagte Lola.
    »Ja«, sagte Mama Cass. »Die meisten von ihnen sahen ihre Familien nie wieder. Von ihnen habe ich ein bisschen Polnisch, Deutsch und Russisch aufgeschnappt.«
    Lola fragte sich, ob Mama Cass auch Jiddisch aufgeschnappt hatte. Das Jiddische hatte etwas Tröstliches an sich, dachte Lola. Es war die Sprache einer Zeit, in der Renia wahrscheinlich glücklich gewesen war, als sie ihre Eltern und Geschwister noch hatte und noch glaubte, eines Tages würde sie Kinderärztin werden.
    Lola hatte ein paar jiddische Lieblingswörter, die sie sich manchmal vorsagte. Sie lauteten Fardrayt und Farblondjet , was beides verwirrt bedeutete, desorientiert, im Kopf nicht ganz beisammen. Und Faflekt , das befleckt oder schmutzig bedeutete und Narish , was einfach nur dumm oder albern hieß. Wenn man sie alle zusammen aufsagte, klang das fantastisch. Fardrayt, Faflekt un Narish, verwirrt, befleckt und albern. Die Worte brachten sie immer zum Lachen. Sie beschloss, Mama Cass nicht danach zu fragen, ob sie Jiddisch konnte. Ohnehin hatte sich schon ein allzu großer Teil des Gesprächs um Übergewicht und jüdische Herkunft gedreht.
    »Mein Großvater, der Vater meiner Mutter, war in Polen Schneider und Kantor«, sagte Mama Cass.
    »Dann konnte er auch singen«, sagte Lola.
    »Er hatte eine schöne Stimme«, sagte Mama Cass. »In unserer Familie waren alle musikalisch. Wir sangen zusammen, auch mehrstimmig. Der Vater meines Vaters, der aus Russland stammte, brachte uns die verschiedenen Stimmen bei, und dann dirigierte er die ganze Familie. Ich erinnere mich
noch, dass ich mit drei oder vier Jahren mehrstimmig gesungen habe.«
    Für Lola klang das nach einem glücklichen Familienidyll. Renia und Edek hätten sie für verrückt erklärt, wenn sie ihnen vorgeschlagen hätte, sie sollten gemeinsam singen. Lola versuchte, sich sie drei beim gemeinsamen Singen vorzustellen. Selbst in Gedanken schaffte sie es kaum, sie alle gemeinsam in einem Zimmer unterzubringen, geschweige denn, sie zum Singen zu bewegen. Renia rannte ständig hin und her. Sie konnte nie still sitzen. Sie war immer auf Achse, kochte, wischte, schrubbte, putzte. Und Edek saß in seinem Lehnsessel, wenn er nicht arbeitete oder Auto fuhr, und war in einen seiner düsteren, blutrünstigen Kriminalromane vertieft. Zu singen wäre aus ihrer Sicht vermutlich einem Akt des Irrsinns gleichgekommen.
    »Hast du dich beklagt, als deine Schwester zur Welt kam?«, fragte Lola Mama Cass.
    »Nein«, sagte Mama Cass. »Auf die Idee wäre ich nie gekommen. Wir sprachen nicht über Gefühle. Wir standen einander sehr nahe. Meine Eltern waren überzeugte Sozialisten, und wir diskutierten viel über Politik, aber nicht über Gefühle. Gefühle waren etwas, das

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