Lola Bensky
man für sich behielt.«
Vielleicht war das Leben in der Familie Cohen doch nicht ganz so idyllisch, wie es den Anschein hatte, trotz des Gesangs, dachte Lola. »Haben deine Eltern sich aufgeregt, als du ihnen gesagt hast, dass du ins Showbusiness willst?«, fragte Lola.
»Sie waren nicht gerade erfreut darüber«, sagte Mama Cass. »Aber sie wussten, dass ich verrückt war auf Broadway Musicals, und ließen mich aus Baltimore, wo ich aufgewachsen bin, nach New York ziehen.«
»In dem Musical I Can Get it for You Wholesale hätte ich
um ein Haar die Rolle der Miss Marmelstein bekommen«, sagte Mama Cass. »Schließlich bekam Barbra Streisand die Rolle, und sie war genauso unbekannt wie ich. Ich war zu dick. Barbra Streisand war auch eine unkonventionelle Wahl, ihr Aussehen entsprach nicht dem gängigen weiblichen Schönheitsideal. Aber ich wäre eine noch unkonventionellere Wahl gewesen.«
»Wow«, sagte Lola.
»Darüber ärgere ich mich heute noch«, sagte Mama Cass.
»Deine Eltern müssen beeindruckt gewesen sein, dass du die Rolle beinahe bekommen hättest«, sagte Lola.
»Eigentlich nicht«, sagte Mama Cass. »Ich habe als Garderobenfrau gearbeitet, und sie dachten, ich würde niemals Geld verdienen. Mein Vater war das zweitjüngste von elf Kindern. Etliche seiner Brüder sind Ärzte geworden, aber mein Vater wollte Opernsänger werden, und als das nicht klappte, gründete er das erste von mehreren Cateringunternehmen. Er ist zehn Mal bankrott gegangen. Er lebte nicht lange genug, um zu sehen, wie reich ich wurde. Er starb nach einem Autounfall. Mit zweiundvierzig.«
»Das ist traurig«, sagte Lola.
»Es ist traurig«, sagte Mama Cass. »Mein Vater war ein sehr charmanter, sehr umgänglicher Mann. Er wusste, dass ich berühmt werden wollte, und er hat nicht ein einziges Mal zu mir gesagt, dass es unmöglich wäre.«
»Du wolltest schon immer berühmt werden?«, sagte Lola.
»Ja«, sagte Mama Cass mit einem begeisterten Nicken, und die Aufregung ihrer frühen Träume war ihr noch immer am Gesicht abzulesen. »Ich wollte spektakuläre Abendkleider tragen und auf der Bühne stehen.«
»Ich wollte dünn sein«, sagte Lola. Ihr bescheidener Ehrgeiz war ihr peinlich.
»Ich habe immer allen erzählt, ich würde das berühmteste dicke Mädchen der Welt werden«, sagte Mama Cass. »Und ich hab's geschafft.« Sie hatte recht, dachte Lola. Lola fiel keine andere dicke Frau ein, die so berühmt war wie Mama Cass.
»Ich bin dick, und ich bin berühmt«, sagte Mama Cass. »Nach der Geburt meiner Tochter habe ich mich auf die Waage gestellt, und ich wog hundertfünfunddreißig Kilo. Wie viel wiegst du?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Lola. »Ich bin zu nervös, um mich auf die Waage zu stellen. Ob ich dicker geworden bin, merke ich daran, wie eng oder weit meine Kleidung gerade ist. Im Moment werden sie wieder enger.«
»Es ist nicht leicht, dick zu sein«, sagte Mama Cass. »John fand mich zu dick, um in der Band mitzumachen. Die drei waren dünn, und dann gab es da mich. Nicht einmal meine Finger sind dünn.« Sie zögerte kurz. »Aber dann hat er meine Stimme gehört«, sagte sie. Wie sie das sagte, klang irgendwie seltsam, dachte Lola.
»John und ich sind beide Jungfrau«, sagte Mama Cass. »Das war möglicherweise Teil des Problems.«
»Ich bin auch Jungfrau«, sagte Lola. »Nicht dass ich an Astrologie glauben würde.«
»Eigentlich glaube ich auch nicht daran«, sagte Mama Cass. »Ich glaube nicht, dass das Teil des Problems war. Wenn man dick ist, fällt es den Leuten leichter, einen schlecht zu behandeln, außer natürlich, man ist reich und berühmt.«
»Ja, ich weiß«, sagte Lola. »In New York hat mich jemand auf der Straße angehalten und gefragt, warum ich so dick sei.«
Mama Cass lachte. »Das mag ich an New York«, sagte sie. »Die Leute sind wesentlich direkter. Sie sind immer direkt, egal um was es geht. Deine Kleidung, deine Haare, deine po
litischen Ansichten. John ist auch direkt. Er sagt immer, ich solle doch meine eigene Plattenfirma gründen, Fat Records. Die Platten, meint er, könnte man so ankündigen: Und wieder eine fette Neuerscheinung auf Fat Records. Ich weiß, dass es komisch ist, aber ich kann nicht wirklich drüber lachen. Außerdem sagt er mir immer wieder, ich hätte sehr eng stehende Augen.«
»Ich finde, deine Augen stehen nicht enger als bei anderen«, sagte Lola.
»Ich kümmere mich eigentlich nicht darum, was er sagt«, sagte Mama Cass. »Ich bin daran
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