London 1666
dafür, dachte Kyle ernst, hat sich ein für uns Vampire sehr viel entsetzlicherer Kult mit seinen Tochtergeschwulsten über London und die ganze Welt ausgebreitet!
Wie zur Bestätigung tauchte im rasenden Flug vor ihm nicht nur die Guildhall, sein Ziel, sondern auch die Spitze der benachbarten Kirche St. Lawrence Jewry auf.
Automatisch ging er tiefer und landete kurze Zeit später unmittelbar vor dem Portal des Gebäudes, in dem nicht nur die wichtigsten Zünfte ihre Verwaltung unterhielten, sondern auch das Rathaus untergebracht war. Und, noch wichtiger ...
. .. unser Versammlungsgewölbe, dachte Kyle.
»Heda, wer seid Ihr?«
Der Ruf eines der beiden Hellebardiere, die den Eingang der Guildhall bewachten, beeindruckte Kyle, der sich in den Schatten zurückverwandelt und aufgerichtet hatte, nicht im mindesten.
»Schweigt!« raunte er den Wächtern scharf entgegen. Und fügte hinzu: »Öffnet mir das Tor. Ich bin in Eile!«
Sie gehorchten.
Was blieb ihnen auch übrig? Kyle zelebrierte seine Macht und war im Weitergehen sogar versucht, die Wachen aufzufordern, sich ihre Hellebarden gegenseitig in die Bäuche zu stoßen.
Doch dann erschien ihm dies ein gar zu sinnloses Töten, das unter seiner Würde war. Wenn Koogan davon erfahren hätte ...
Kyle durchschritt ungehindert das Gebäude, das mit den Bannern der Zünfte, den Namen der Lord Mayors und den Wappen der Herrscher geschmückt war.
Im Westflügel lag der Zugang zum unterirdischen Versammlungs-raum der Sippe. Kyle fand ihn magisch versiegelt, was entweder bedeutete, daß gerade eine Zusammenkunft stattfand, bei der die Mächtigen der Stadt nicht gestört werden wollten - oder daß keiner von ihnen anwesend war.
Nach kurzer innerer Beratung brach Kyle das Siegel. Die Treppe im Boden wurde sichtbar, und er stieg hinab in das von achteckigen Säulen getragene Gewölbe, das - wie insgeheim befürchtet - leer und verlassen war.
Die Traurigkeit, die den Vampir daraufhin überkam, überraschte ihn selbst. Aber dann durchschaute er ihren Grund: Die finstere Halle, in der Kyle zu sehen vermochte, als betrachtete er sie noch mit seinen eigenen Augen, erweckte den Anschein, schon lange nicht mehr besucht worden zu sein.
Seit Jahren nicht mehr .
Seit sechs Jahren ...? stellte er sich die bange Frage.
Dann erinnerte er sich der Angewohnheit Koogans, hier unten die aktuellen Ausgaben der Zeitungen aufzubewahren und zu studieren, die in London in Umlauf waren.
Durch das Gewölbe, das ihm wie eine Ödnis erschien, orientierte sich Kyle um den runden Tisch herum zum Thron des Sippenführers, der wie eine knöcherne, hohle Hand geformt war.
Unter der steinernen Tischplatte gab es Fächer, und die verstaubte Zeitung, die zuoberst auf dem Stapel lag, datierte vom - - 31. Dezember 1659!
Dem Tag, an dem Kyle mit Pepys verschmolzen war!
Und seine Brüder und Schwestern .?
Kyle zollte dem jähen Schwächegefühl, das ihn übermannte, Tribut und ließ sich auf Koogans Thronsitz sinken. Zu anderen Zeiten hätte er dergleichen nicht gewagt - niemand hätte dies.
Aber die Zeiten . waren anders geworden.
Welches Schicksal hatte seine Familie in der Silvesternacht vor sechs Jahren erlitten?
Hatte der Zyklop vom Teich jedes einzelne Mitglied der Sippe heimgesucht, es entweder vernichtet oder verstümmelt und seiner Erinnerung beraubt, wie es mit ihm, Kyle, geschehen war? Wandelten auch die anderen Kelchkinder seither mit gefälschtem Gedächtnis durch die Straßen der Stadt und führten tagsüber ein Leben, als seien sie Menschen, obwohl sie doch zu weit Höherem bestimmt waren .?
Unruhig rutschte Kyle auf Koogans Sitz hin und her. Sein Blick streifte den Platz, der Kyd gehört hatte, mit dem er trotz seines Hangs zum Einzelgängertum manchen nächtlichen Streifzug unternommen hatte - manche Jagd im Mondenschein .
Vorbei! Kyd war wie alle anderen verschwunden.
Wo seid ihr? dachte Kyle. Wo kann ich nach euch suchen?
Unweigerlich drifteten seine Gedanken erneut zu Ruby.
Kyle hatte kaum noch Zweifel, daß es das Blut des Mädchens gewesen war, was ihm nach all den Jahren die Augen geöffnet und die Erinnerung an sein Vorleben als Kind des Kelchs zurückgegeben hatte. Etwas in Rubys Blut hatte das Vergessene nach oben geschwemmt. Etwas .
»Ich habe keine Wahl«, murmelte Kyle. Seine Worte waren an keinen anderen Zuhörer als an sich selbst gerichtet. »Ich muß sie wiederfinden. Und wenn ich sie foltern müßte, sie wird mir ihr Geheimnis lüften, oder .«
Über das
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