Long Reach
hatte versagt. Ich spürte, wie die Gefühle in meiner Brust hochstiegen.
»Da ist noch etwas«, sprudelte es aus mir heraus. »Noch eine Leiche. Ich war dabei. Ich hab
mitgeholfen
.« Plötzlich war es ungeheuer erleichternd, es rauszulassen. Jemandem erzählen zu können, was ich gesehen hatte.
»Hyrone Brown«, sagte Tony. »Clubbesitzer. Über den wissen wir Bescheid. Vielleicht ist das der Grund, warum man dir den Bericht geschickt hat.«
Unwillkürlich sprangen mir die Tränen in die Augen und mein Körper schüttelte sich vor Schluchzern. Tony standauf und strich mir unbeholfen über den Rücken. Er zog eine Flasche Whisky vom Regal und goss einen Schluck in eine seiner widerlichen Tassen. Dankbar kippte ich ihn runter und ließ die Ereignisse der letzten beiden Nächte aus mir herausströmen. Tony stand hinter mir und massierte mir die Schultern.
»Ich weiß, mein Sohn«, sagte er. »Ich weiß.«
Er nahm das Telefon und trat damit ans Fenster. Was er sagte, war für mich nicht zu verstehen. Darin war er gut. Er legte auf.
»Wollen wir die Sache in Ordnung bringen?«, fragte er.
Zwanzig Minuten später hatten wir einen von Tonys üblichen Zickzackparcours durch die Schleichwege von Soho hinter uns. Wir überquerten die Oxford Street, wo sich der Verkehr staute, schlängelten uns durch zwischen Touristen und den allgegenwärtigen Typen mit ihren Werbetafeln für Golfzubehör-Schlussverkäufe. Als wir uns schließlich hinter einen Bus gehängt, ein paar Taxis umkurvt und uns durch den Hinterausgang eines Klamottenladens gedrückt hatten, war ich wieder annähernd ich selbst.
Schließlich landeten wir in der Charlotte Street. Ian Baylis saß schon an einem Tisch beim Griechen. »Schön, dich wieder an Bord zu haben«, sagte er, als ich mich setzte. »Du
bist
doch wieder an Bord?« Er sah mich an und hob fragend eine Augenbraue.
Ich nickte. Die letzten Tage hatten mich ganz schön fertiggemacht.
Tony tätschelte mir den Rücken. »Wir dachten, wir hätten dich verloren«, sagte er.
Sie stopften Hummus, Lammeintopf und gefüllte Weinblätter in sich rein, während ich meine Oliven mit Pittabrot und Taramosalata nicht recht runterbekam. Die Unterhaltung drehte sich um Autos und Baylis’ Lieblingswein. Nichts Offizielles – wir befanden uns schließlich in der Öffentlichkeit –, aber etwas nagte doch an mir.
»Wo ist Anna?«, fragte ich. »’tschuldigung, Ysobel.«
Tony und Baylis wechselten einen Blick. »Noch nichts gehört«, sagte Baylis.
Thema beendet. Dass ich glaubte, Kontakt gehabt zu haben, erwähnte ich nicht.
Gerade als der Kaffee gebracht wurde, bekam ich eine SMS. Sophie.
Bist du i d Stadt? x
Ich simste zurück:
Ja. Du? x
Sie antwortete:
Treffen i d Tate Modern 3. Stock halb 5?
Ich zeigte Tony und Baylis die Nachrichten.
»Geh hin«, sagte Tony.
Ich antwortete sofort:
Bin da xx
Als ich zum Gehen aufstand, schüttelte ich beiden die Hand. Ian Baylis lächelte mich doch tatsächlich an.
»Viel Glück«, sagte Tony.
Ich nahm die U-Bahn bis London Bridge und ging am Fluss hinauf zur Tate. Der Wind war eisig und die Leute hatten sich Schals ums Gesicht gewickelt, sodass man nur die Augen sehen konnte.
Ich betrat die Turbinenhalle am Eingang des Museums. Über mir lauerte eine Skulptur aus Stahl, die aussah wie eine riesige schwarze Spinne, ständig bereit zuzubeißen. Ich durchquerte die Halle und nahm die Rolltreppe zum dritten Stock. Sophie saß oben auf einem der Sofas. Sie war mit ihrer Mutter hier.
Und mit ihrem alten Herrn.
Sophie und Cheryl küssten mich. Sie wirkten froh, mich zu sehen, aber zugleich angespannt und nervös. Tommy gab mir die Hand und umarmte mich, entspannt wie eh und je. Er trug einen weichen schwarzen Mantel und dazu einen grauen Schal. Er hätte ein irischer Priester mit gutem Geschmack sein können.
»Warum geht ihr Mädels nicht kurz auf einen Kaffee«, sagte er. »Ich will Eddie nur ein paar Bilder zeigen.«
Sophie drückte mir den Arm. »Ich bring dir einen Milchkaffee mit«, sagte sie. »Bis gleich.«
Sie gingen rauf ins Café und Tommy führte mich durch die Säle. Alte Gemälde hingen neben modernen. Zum Vergleich, vermutete ich. Eine Schneelandschaft, Deutschland, 19. Jahrhundert, hing neben einem Peter Doig, auf dem winzige Gestalten auf einem riesigen zugefrorenen See Schlittschuh fuhren. Auf dem Schneebild sah man eine GruppeNadelbäume, in der Mitte einen Mann in Schwarz, den Kopf
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