Lords of Salem: Roman (German Edition)
entspannten sie sich, und es lief gut. Wie üblich gab Whitey eines seiner Familiendramen zum Besten, kranke Geschichten aus seiner Kindheit, die vermutlich alle erfunden waren, aber die Zuhörer zu interessieren schienen. Lag ein Körnchen Wahrheit darin? Herman hatte keine Ahnung. Er hatte schon hundert Geschichten vorher aufgehört, darüber nachzudenken. Er wusste, dass es seine Aufgabe war, den Ungläubigen zu spielen und Whitey die Geschichte immer wilder ausgestalten zu lassen. Und dann zu einem Werbespot oder Song überzublenden.
» Tut mir leid, Mann«, sagte er, nachdem Whitey seine erste Variante der Geschichte erzählt hatte, » aber das glaube ich einfach nicht. Die Story ist doch absoluter Schwachsinn.«
» Was soll daran so unglaubwürdig sein?«, fragte Whitey. » Ich bin mit meinen Großeltern auf einem Kreuzfahrtschiff, und meine Oma wird seekrank. Sie beugt sich über die Reling und kotzt … spuckt ihr Gebiss direkt ins Meer. Wirklich.«
» Ekelhaft«, sagte Herman.
» Ach, es kommt noch schlimmer«, sagte Whitey. » Später am Abend habe ich dann meine Oma dabei überrascht, wie sie splitternackt und ohne Zähne meinem Opa einen geblasen hat.«
» Splitternackt, was?«, sagte Herman. » Das ist das Letzte, was man sehen möchte.«
» Also, nicht ganz nackt. Sie trug einen Sombrero, auf den die Worte ›Ay, Chihuahua‹ gestickt waren.«
» Wie bitte?«, sagte Herman.
» Was, habe ich vergessen zu erwähnen, dass es eine Mexiko-Kreuzfahrt war?«
Herman schüttelte nur den Kopf. Sie bewegten sich definitiv am Rande dessen, was Chip für zumutbar hielt. Jeden Augenblick könnte er am Studiofenster auftauchen und ihnen ein Zeichen geben, es nicht zu weit zu treiben. Trotzdem konnte er sich nicht verkneifen zu sagen: » Ich nehme an, dein Opa musste sich in dieser Nacht keine Sorgen machen, gebissen zu werden.«
» Nennst du meine Oma eine Hure?«, fragte Whitey. Er ließ die Zuhörer das Lächeln in seiner Stimme hören, damit sie wussten, dass er scherzte. » Rede nicht so über meine Großeltern.«
Auf der anderen Seite der Glassscheibe rührte sich etwas, und Herman dachte: Chip, wie aufs Stichwort . Aber als er hochblickte, sah er Heidi. Ganz leise öffnete sie die Tür und schlüpfte herein. Ein wenig unsicher auf den Füßen ging sie zu ihrem Stuhl und setzte sich vor das Mikrofon.
Sie sah nicht gut aus. Ihre Augen waren glasig und blutunterlaufen und von dunklen Ringen umgeben, als hätte sie wochenlang nicht geschlafen. Sie war eine wandelnde Katastrophe. Verdammt, warum hatte er sie gedeckt?
» Schaut mal, wer sich zu uns gesellt«, sagte er entrüstet.
Als sie ins Mikrofon sprach, war ihre Stimme weich und kehlig. Ja, er musste zugeben, dass sie eine tolle Radiostimme hatte. Sie triefte förmlich vor Sexappeal. » Habe ich was verpasst?«, fragte sie.
» Eine weitere ungereimte Kindheitserinnerung von Whitey«, sagte Herman.
» Ungereimt?«, beschwerte sich Whitey. Er legte die Hand aufs Herz. » Jedes Wort davon ist wahr. Wenn ich so sagen darf, eine faszinierende Geschichte von meiner Schlampen-Großmutter und ihren fehlenden Zähnen.«
Herman unterdrückte den Impuls, Heidi während der Sendung zu schelten. » Da du jetzt hier bist, können wir, glaube ich, unsere große Ankündigung vom Stapel lassen. Fanfare, bitte, Igor.«
Whitey drückte einen Knopf am Mischpult und spielte Fanfarentöne von schräg klingenden Trompeten und Kazoos ab.
» Was Besseres haben wir nicht?«, fragte Herman.
Whitey zuckte die Achseln. » Ich kann es noch mal spielen, wenn du willst.« Er drückte erneut auf den Knopf. Heidi stützte das Kinn auf die Hand, schloss halb die Augen und stand kurz davor einzunicken. Herman warf ihr einen bösen Blick zu, aber sie war so neben der Spur, dass sie es nicht einmal bemerkte.
Als die Fanfare endete, sagte er mit schallender Stimme: » Die Lords kommen für einen Abend nach Salem.«
Bei diesen Worten wurde Heidi ein wenig munterer. Jedenfalls öffnete sie die Augen.
» Die Lords of Salem? Wirklich?«, murmelte sie. » Wann?«
» Du solltest mal zu unseren Vorbesprechungen kommen«, sagte Whitey.
Heidi lächelte müde und zeigte Whitey den Mittelfinger.
Herman begann, im Stil der Bay City Rollers zu singen. » S-A-T-U-R-D-A-Y night! Und wir haben Karten. Wir sind sogar die Einzigen, die Karten haben. Ihr bekommt sie von uns, oder ihr bekommt sie gar nicht. Und das Konzert ist umsonst.«
» Hast du umsonst gesagt?«, fragte Whitey mit
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