Lords of Salem: Roman (German Edition)
sich, etwas, das in ihren Knochen vibrierte. Es gefiel ihr. Es gab ihr das Gefühl, woanders zu sein, und genau danach sehnte sie sich. Überall, nur nicht hier. Als sie mit ihrer nassen Hand den Knopf berührte und das Radio ein wenig lauter drehte, bekam sie einen leichten Stromschlag. Ja, so war es besser, ein bisschen lauter. Woran erinnerte es sie? Sie konnte nicht den Finger darauf legen, aber irgendwie kam es ihr vertraut vor. Die Musik rief sie, flüsterte ihr zu. Wow, das hatte sie schon seit Jahren oder gar Jahrzehnten bei keinem Song mehr empfunden. Es kribbelte von Kopf bis Fuß.
Die Teller waren alle sauber. Sie griff ins Spülwasser und fischte Besteck vom Boden des Spülbeckens. Sie bürstete es ab und tauchte es in frisches Wasser, als etwas ihren Blick auf sich zog. Was war das für eine dunkle Gestalt, die sie durch das Fenster über der Spüle ansah?
Erschrocken stellte sie fest, dass es ihre eigene Spiegelung auf dem dunklen Glas war. Aber sie sah nicht aus wie sie, oder? Wer war diese alte, dicke, ungepflegte Frau? Sie war es nicht. Sie wusste, dass sie nicht so aussah. Das Universum wollte sie verspotten.
Aber vielleicht , sagte eine Stimme in ihr, wird es Zeit, sich zu wehren.
Wer war das? , fragte sie sich. Sie betrachtete die seltsame dunkle Spiegelung auf der Scheibe, das Bild, das einerseits sie war und andererseits auch nicht. Etwas daran war anders, und es lag nicht nur daran, dass es spiegelverkehrt war. Sie sah anders aus als zuvor. Ein durchtriebenes Lächeln umspielte ihre Lippen.
» Wie soll ich mich wehren?«, fragte sie ihr Spiegelbild.
» Hast du was gesagt?«, rief ihr Mann aus dem Nebenzimmer.
Sie ignorierte ihn.
Also , flüsterte es zurück, wir könnten mit einer Typveränderung anfangen.
Eine Typveränderung! Das hatte sie schon immer gewollt. Sie hatte ihre Freundinnen angefleht, sie für eine dieser Fernsehsendungen vorzuschlagen, bei denen die Frauen am Anfang dick und hässlich aussahen und zum Schluss echte Schönheiten waren. Sie wäre perfekt für so eine Show, das wusste sie. In ihr verbarg sich eine schöne Frau. Sie brauchte nur jemanden, der sie herausließ. Aber niemand nahm sie diesbezüglich ernst. Und die meisten ihrer Freundinnen hatten sich mittlerweile abgewandt, vertrieben von Keith. Sie hätte ihn schon lange verlassen sollen. Dann hätte sie wahrscheinlich auch noch Freundinnen.
» Soll ich mein Make-up holen?«, fragte sie ihr Spiegelbild. Sie trocknete sich die Hände ab und wollte ins Bad gehen.
» Telefonierst du?«, rief Keith. » Mit wem sprichst du?«
Sie ignorierte ihn einfach weiter. Das war eine Sache zwischen ihr und ihrem Spiegelbild – es ging Keith nichts an. Wenn Keith sich einmischte, würde er nur alles kaputtmachen, wie immer.
Make-up ist nicht nötig , sagte das Spiegelbild. Du hast eine angeborene natürliche Schönheit. Wir müssen sie nur ein wenig besser zum Vorschein bringen.
Ja, das stimmt , dachte sie. Ich habe wirklich eine angeborene natürliche Schönheit. Ich bin hinreißend. Sie hob die Hände und strich sich mit den Fingern durch das strähnige Haar.
Du musst sie nur zum Vorschein bringen , sagte das Spiegelbild.
Aber wie sollte sie das tun? Und ohne Make-up? Sie sah sich auf den Küchenablagen um, aber dort gab es nicht viel. Eine halbleere Schachtel Cornflakes, eine Grapefruit, ein paar Tomaten. Zwei schmutzige Schnapsgläser, die sie zu spülen vergessen hatte. Ein Gewürzregal. Ansonsten gab es nur die Sachen, die gerade im Geschirrständer trockneten. Ein paar Teller, Plastiktassen, Besteck, ein Tranchiermesser …
Ein Tranchiermesser , sagte das Spiegelbild. Das könnte nützlich sein.
Schon möglich , dachte sie. Sie sah, wie ihre Hand sich langsam danach ausstreckte und die Finger sich um den Griff schlossen. Es fühlte sich gut an, hatte ein gutes Heft – warum war ihr das noch nie aufgefallen? Sie drehte es in der Hand und beobachtete, wie sich das Licht der Deckenlampe auf der flachen Seite der Klinge spiegelte, verschwand und wieder aufleuchtete, als sie es weiterdrehte. Es war, als zwinkerte ihr das Messer zu, als teilte es ein Geheimnis mit ihr. Sie blickte auf zu ihrem Spiegelbild und sah, dass es ihr ebenfalls zuzwinkerte und das durchtriebene Lächeln einem heimtückischen Grinsen gewichen war. Einerseits erschrak sie, doch vor allem war sie entzückt. Ja, Keith hatte so viele Jahre auf ihr herumgetrampelt und sie unterdrückt. Wie schön es war, sich ein wenig zu strecken und ihr
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