Lords und Ladies
Anblick.
Er betrat das Schloß durch die Hintertür, schlich durch leere Flure und
Korridore zum Kerker. Nirgends rührte sich etwas. Ganz klar: Alle be-
suchten die Vorstellung, und sicher dauerte es nicht mehr lange, bis sie
zurückkehrten.
Das Schloß fühlte sich groß, alt und kalt an.
Viel eicht brauchten nur noch einige wenige Minuten zu verstreichen,
bevor es im Schloß wieder von Hochzeitsgästen wimmelte.
Oder auch nur Sekunden…
Das Geräusch verklang.
Shawn sah um die Ecke. Die Stufen und dahinter die offene Tür des
Verlieses…
»Halt!« rief er nur für al e Fäl e.
Seine Stimme hal te von den Wänden wider.
»Halt! Oder… oder… oder… Halt!«
Er wagte sich vor, ging die Treppe hinunter und blickte durch den of-
fenen Zugang.
»Seid gewarnt! Ich erlerne gerade den Pfad des jadegrünen Lotos!«
Die Zellentür war ebenfal s geöffnet. Und daneben stand eine in Weiß
gekleidete Gestalt.
Shawn blinzelte.
»Du bist doch das Tockley-Mädchen, oder?«
Die junge Frau lächelte, und ihre Augen glühten im matten Licht.
»Du trägst ein Kettenhemd, Shawn«, sagte sie.
»Was?« Er sah erneut zur offenen Tür.
»Es ist häßlich. Leg es ab. Wie kannst du mit al dem Zeug hören?«
Shawn war sich der Leere in seinem Rücken bewußt, doch er brachte
nicht den Mut auf, sich umzudrehen.
»Ich höre recht gut«, erwiderte er und schob sich ein wenig zur Seite,
um die Wand direkt hinter sich zu wissen.
»Aber du hörst nicht, was wirklich ist«, sagte Diamanda und näherte sich. »Das Eisen macht dich taub.«
Shawn war noch nicht an spärlich bekleidete junge Frauen gewöhnt,
die mit verträumtem Gesichtsausdruck auf ihn zutraten. Er wünschte
sich plötzlich, den Weg des sofortigen Rückzugs beschreiten zu können.
Er sah zur Seite.
In der offenen Zel entür zeichnete sich eine dürre Gestalt ab. Sie
schien zu versuchen, einen möglichst großen Abstand zu ihrer Umge-
bung wahren zu wol en.
Diamanda bedachte Shawn mit einem sehr sonderbaren Lächeln.
Er floh.
Irgendwie hatte sich der Wald verändert. Ridcul y zweifelte kaum daran,
daß es hier in seiner Jugend Hyazinthen, Schlüsselblumen und… und
Hyazinthen und so gegeben hatte. Jetzt schien die Vegetation nur aus
Dornenbüschen zu bestehen. Sie zerrten an seinem Mantel, und gele-
gentlich stießen ihm niedrige Zweige aus reiner Bosheit den Hut vom
Kopf.
Was alles noch schlimmer machte: Bei Oma Wetterwachs kam es nicht
zu derartigen unliebsamen Zwischenfällen.
»Wie machst du das?« fragte der Erzkanzler nach einer Weile.
»Ich weiß die ganze Zeit über, wo ich bin«, antwortete Oma.
»Na und? Auch ich weiß, wo ich bin.«
»Nein, weißt du nicht. Du bist nur zufäl igerweise da. Das ist etwas ganz anderes.«
»Nun, ich frage mich, warum wir nicht einem Weg folgen.«
»Dies ist eine Abkürzung.«
»Zwischen zwei Punkten, die du genau kennst?«
»Ich habe mich nicht verirrt – wenn du das meinst. Ich bin nur… rich-tungsmäßig herausgefordert.«
»Ha!«
An Selbstsicherheit mangelte es Esme Wetterwachs gewiß nicht – das
mußte Ridcully ihr lassen. Sie mochte durchaus fähig sein, sich zu verir-
ren – und er hatte al en Grund zu der Annahme, daß sie tatsächlich die
Orientierung verloren hatte; es sei denn, in diesem Wald existierten zwei
Bäume mit exakt gleich angeordneten Zweigen und einem Stoffetzen, der aus dem Umhang des Erzkanzlers stammte. Aber Esme verfügte über
eine besondere Eigenschaft: Bei Leuten, die keine Hexenhüte und ural-
ten schwarzen Kleider trugen, sprach man in diesem Zusammenhang
vielleicht von »Haltung«. Ja, Esme Wetterwachs besaß Haltung. Man
konnte sich kaum vorstel en, daß sie sich schwerfäl ig bewegte – es sei
denn, es steckte ihrerseits Absicht dahinter.
Natürlich hatte Ridcully das auch damals bemerkt. Allerdings war er zu
jener Zeit vor allem darüber erstaunt gewesen, wie gut Esmes Gestalt in
den Rest der Welt paßte. Und…
Der Erzkanzler fand ins Hier und Heute zurück.
»Einen Augenblick!«
»Du trägst völlig falsche Kleidung!«
»Ich habe nicht mit einer Wanderung, durch den Wald gerechnet! Dies
ist ein verdammter Zeremonienmantel!«
»Zieh ihn aus.«
»Woher sol en dann die Leute wissen, daß ich Zauberer bin?«
»Ich sage es ihnen!«
Oma Wetterwachs wurde allmählich sauer. Tief in ihrem Innern mußte
sie zugeben, daß sie sich tatsächlich verirrt hatte. Obwohl das eigentlich
unmöglich war. Zwischen dem Wehr an den
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