Loretta Chase
Tageszeit nach war es
Mittag, doch dem schottischen Wetter nach Morgendämmerung.
Die Luft
zwischen ihnen knisterte.
»Lebhaft
geträumt«, vermutete sie.
»Ja,
vielleicht.« Sein Blick schweifte kurz umher, ehe er wieder sie ansah. »Also, eigentlich
bin ich gekommen, um dir zu helfen.«
»Um mir
wobei zu helfen?«
»Nach
Spuren zu suchen«, sagte er.
Wie sie ihn angesehen hatte, als er
hereingekommen war.
Genauso
hatte sie ihn angeschaut, als er sie an jenem Abend im Ballsaal ausfindig
gemacht hatte. Hatte er schon damals ganze Welten in diesen blauen Augen
gesehen?
Irgendetwas
musste er dort erblickt haben, denn es hatte ihn wie angewurzelt stehen bleiben
lassen.
Und
vergangene Nacht hatte sie gesagt ... sie hatte gesagt ...
Ich mag
dich. Ich habe dich schon immer gemocht. Und ich bewundere dich ... Was sollte das bedeuten? Was sollte
es nur bedeuten?
»Es war ein
Fehler von mir, deine Spur nicht ernst zu nehmen«, sagte er. »Ich habe mich
getäuscht, was unsere reizenden Hausgeister angeht. Hätte ich nur einen
Augenblick nachgedacht ... was ich nicht konnte, und der Grund dafür dürfte
mittlerweile offensichtlich sein. Tatsache ist, dass ich falschlag. Tatsache
ist, dass die Arbeiter nicht pausenlos von mir beaufsichtigt werden müssen.
Tatsache ist, dass wir den Geistern das Handwerk legen müssen. Dein Plan
scheint mir plausibel. Unsere Gespenster müssen einen wirklich guten Grund
haben, wenn sie glauben, hier einen Schatz zu finden, den sonst niemand hier zu
finden glaubt. Entweder sind sie völlig von Sinnen oder extrem dumm, oder sie
täuschen sich ganz gewaltig – oder sie haben recht und es gibt diesen Schatz
tatsächlich.«
Sie
verschränkte die Hände vor dem Bauch. Außer einem schlichten Armband trug sie
keinen Schmuck. Nur noch einen Ring – diesen Ring ...
»Danke«,
sagte sie.
Er wandte
seinen Blick von dem Ring, sah sich um, doch kein Bedienter stand in Hörweite.
»Deshalb war ich noch wach, als du gestern Nacht zurückgekehrt bist«, sagte er
leise. »Dieser Zettel, den du gefunden hattest, wollte mir nicht aus dem Sinn.
Ich konnte einfach keinen Schlaf finden. Mir sind ein paar Ideen gekommen, doch
musste ich auf meine Erinnerung vertrauen. Ich würde ihn mir gern noch einmal
ansehen.«
»Er
befindet sich in der Dokumentenkammer«, sagte sie.
Wie Lisle zu seiner Überraschung hatte
feststellen müssen, verbarg sich hinter der schlichten Fassade der Burg ein
sehr komplexes und unlogisches Inneres. Das Zwischengeschoss, welches Olivia
zur Dokumentenkammer bestimmt hatte, lag zwischen
dem Küchenkorridor des Hauptgeschosses und einem vom oberen Saal abgehenden
Alkoven. Durch das Fenster konnte man auf die einst so verhängnisvolle Kluft
zwischen Nord- und Südflügel blicken.
Der direkte
Weg führte über die Treppe des Südturms. Man konnte jedoch auch über die Empore
in den Nordturm steigen, wo man linker Hand in einen kurzen Gang gelangte,
vorbei an Herricks Gemächern, und dann eine schmale Stiege erreichte, die
ebenfalls in die Dokumentenkammer führte. Das schmale Gelass war heller und
weniger beengt als der darunter liegende Küchenkorridor, was daran liegen
mochte, dass das Fenster nicht gar so tief im Mauerwerk lag, welches wiederum
nicht gar so dick war wie im Geschoss darunter. Was indes nicht hieß, dass es
an diesem tristen Tag dort licht und hell gewesen wäre.
»Und?«,
fragte sie erwartungsvoll.
Er schaute
sich um. »Als ich zuletzt hier war, herrschte ein heilloses Durcheinander aus
Kisten, Büchern und Papieren.«
»Herrick
hat wahre Wunder vollbracht«, sagte sie. »Er hat Regale anbringen und ein
Kabinett aufstellen lassen.«
Jetzt war
alles an seinem Ort und ordentlich beschriftet.
Was ihn
nicht überraschen sollte. Er hatte selbst gesehen, wie gut Olivia die
Dienerschaft zu unterweisen verstand. Dennoch kam er aus dem Staunen kaum
heraus, war sie doch in so vielerlei Hinsicht das Chaos in Person.
Aber nein,
er tat ihr unrecht. Sie konnte auch sehr bedacht handeln. Geradezu berechnend.
Was er für
Chaos hielt, waren vielleicht einfach nur ihre eigenen Regeln.
»Das
Mobiliar stammt aus dem Arbeitszimmer deines Cousins«, erklärte sie ihm. Viel
war es nicht. In der Fensternische stand ein schlichter Schreibtisch mit einer
einzigen Schublade. Auf dem Tisch befand sich ein altmodisches Schreibpult,
davor ein sehr zweckmäßig aussehender Stuhl, der vermutlich einen Zentner wog.
»Sieht aus wie das Ungetüm, auf dem Dr. Johnson sein Wörterbuch
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