Loretta Chase

Pyramiden und die Sphinx das erste Mal erblickt hatte,
war er in Gedanken bei Olivia gewesen und hatte sich vorgestellt, was sie wohl
dazu sagen würde. Er hatte sich ihre Miene vorgestellt, wenn sie dieser
Weltwunder ansichtig würde. Gemeinsam würden sie in eine der Grabkammern
klettern und ... »Doch, ja«, meinte er, »manchmal stelle ich mir vor, wie es
wäre, wenn ich mich einfach umdrehen und zu dir sagen könnte: 'Schau dir dies
an, Olivia. Schau dir das an'. Ja,
doch. Manchmal.«
    »Ah«, sagte
sie.
    »Der
Augenblick der Entdeckung, wenn man etwas zum ersten Mal zu Gesicht bekommt,
ist furchtbar aufregend. Das würde dir gefallen«, sagte er. »Aber davor und danach
vergehen Stunden, Tage, Wochen, Monate mit eintöniger, stetiger Arbeit.«
    »Bei der du
völlig vergessen würdest, dass es mich überhaupt noch gibt.«
    »Du
könntest mir ab und an eine Tasse Tee bringen«, schlug er vor. »Das würde meiner
Erinnerung auf die Sprünge helfen.«
    »Dafür hast
du Nichols«, sagte sie.
    »Du
könntest all deine Kleider ablegen«, sagte er.
    »Und nackt
in der Wüste tanzen?«
    »Nackt. Und
nachts«, sagte er. »Unter den Sternen. Einen solchen Sternenhimmel hast du
noch nie gesehen.«
    »Das klingt
himmlisch«, seufzte sie. Dann sprang sie mit einem Satz von der Bank.
    »Aber ich
habe dich durchschaut. Du willst mich mit schönen Versprechen ködern.«
    »Unsinn.«
    Oder
doch? Vielleicht.
    »Ich kenne
dich, Lisle. Niemand kennt dich so gut wie ich. Du hast Gewissensbisse.
    Dein
schlechtes Gewissen nagt an dir, jede Nacht. Und deshalb hast du dir einen Plan zurechtgelegt,
um mich zu Fall zu bringen. 'Ich werde ein paar Köder auswerfen', hast du dir
gesagt. Und weil niemand außer Mama mich so gut kennt wie du, weißt du ganz genau,
wie du vorgehen musst, um zum Ziel zu gelangen.«
    Tat er
das? Und wenn ja, funktionierte es?
    Sie kam zu
ihm herüber. »Ich habe mehr Geduld, als du je für möglich halten würdest,
aber ich bin ein wenig verstimmt. Dieses tragische 'Sie konnten zueinander nicht
kommen' ist meine Sache nicht. Es verdirbt mir die Laune. Lass mich noch mal diesen
verflixten Zettel sehen.«
    Ägypten. In der Wüste tanzen. Nackt. Unter
den Sternen.
    Er sah so
engelsgleich aus, mit seinem goldenen Haar und den silbergrauen Augen, aber er war
ein ganz durchtriebener Verführer.
    Sie nahm
ihm den Zettel aus der Hand und zwang sich zur Konzentration.
    Die
Zeichnung zeigte zwei Wände, jeweils zwölf Fuß lang. In die kleinen Rechtecke, die das
Mauerwerk darstellen sollten, waren winzige Zeichen und Zahlen gekritzelt.
    Im unteren
Viertel der rechten Wand befand sich ein Symbol.
    »Das da«,
sagte sie, »sieht ganz anders aus als die anderen.«
    »Ein
Steinmetzzeichen, wenn mich nicht alles täuscht. Sieht aus wie GL, von einem Pfeil
durchkreuzt.«
    »Wenn es
ein Pfeil ist, zeigt er nach rechts«, sagte sie.
    »Aber wo
ist es?«
    Sie gingen
beide zur nach Osten gelegenen Wand und suchten nach dem Zeichen.
    Nichts.
    Sie wandten
sich zur gegenüberliegenden Wand und musterten diese kritisch. Wieder nichts.
    »Es sollte
auf einem der ...« Sie hielt inne. »Es sei denn, wir suchen das Falsche.« Worte
tauchten in ihren Gedanken auf. Bilder. Was die alten Damen gesagt hatten. Was
Lisle gesagt hatte.
    »Erinnerst
du dich, als ich zu dir meinte, es wäre viel zu einfach, wenn diese Zeichnung
lediglich die Wand darstellen würde, und du erwidert hast, Karten wären nun mal
einfach?«, fragte sie.
    Er
betrachtete das Zeichen, blickte dann wieder an die Wand.
    »Du meinst
einen Pfeil, der auf die Stelle zeigt ?«, fragte er.
    »Wenn mit
der Wand die Westseite gemeint ist, zeigt er vielleicht auf eines der Fenster.«
    »Aber was
bedeutet GL?«
    »Die
Zeichnung ist doch von deinem Cousin«, meinte sie. »Vielleicht ist das einer
seiner berühmten Scherze.«
    »'Die Wände
haben Augen und Ohren'«, sagte er nachdenklich. »'Immer schön nach unten
schauen.'«
    Und da sah
sie es auf einmal vor sich. Die Stadt, mit ihren engen, steilen Gassen. Die
Stadt, in der Frederick Dalmay seinen Lebensabend verbracht hatte. »Edinburgh«,
sagte sie. »Natürlich. Er muss das unglaublich lustig gefunden haben.«
    »Was? Ich
verstehe nicht ...«
    »Komm«,
sagte sie und nahm seine Hand.
    Seine Hand,
seine Hand. Wie konnte etwas so Simples wie seine Hand zu halten, so ganz und
gar nicht simple Dinge in ihr auslösen?
    Sie führte
ihn hinüber zur Nische mit dem Klosett und öffnete die Tür. » Gardyloo!« ,
rief sie.
    »Das