Loretta Chase
einschlagen«, jammerte
Mutter. »Ich kann es nicht fassen, dass du dich von ihr zum Narren hast halten
lassen. Ich schäme mich. Wie soll ich jetzt noch meinen Freunden ins
Gesicht sehen? Wie soll ich jemals wieder erhobenen Hauptes das Haus
verlassen?« Sie sank auf die Chaiselongue und brach in Tränen aus.
»Das haben
wir davon, deinem ägyptischen Spleen nachgegeben zu haben«, sagte Vater. »Aber
damit ist jetzt Schluss, ein für alle Mal. Bevor ich nicht eine Spur
Dankbarkeit deinen Eltern gegenüber, die Andeutung sich eines Gentlemen
geziemenden Verhaltens bei dir sehe, bekommst du von mir keinen Penny mehr.«
Sprachlos starrte Lisle ihn an. Eine Szene hatte er erwartet. Natürlich. Er
wäre zutiefst schockiert gewesen, hätten seine Eltern nicht getobt und
gezetert.
Aber das?
Das war neu. Vielleicht hatte er sich ja verhört. Wie andere Söhne des Adels
auch, war Lisle finanziell von seinem Vater abhängig. Geld war aber auch schon
alles, was er von seinen Eltern bekam. Zuneigung oder Verständnis hatte er von
ihnen nie erwarten können. Das hatte er von den Carsingtons bekommen, und zwar
reichlich. Aber die Carsingtons konnte er nicht um Geld angehen.
»Ich soll
kein Geld mehr bekommen?«, vergewisserte er sich nochmal.
»Du hast
uns zum Gespött gemacht, uns ausgenutzt, ignoriert und hintergangen«, sagte
Vater. »Wir haben es geduldig ertragen, aber diesmal bist du zu weit gegangen.
Du hast deine Mutter gedemütigt .«
Wie aufs
Stichwort fiel seine Mutter in Ohnmacht.
»Aber das
geht doch nicht«, sagte Lisle. »Wovon soll ich denn leben?«
Vater eilte
an Mutters Seite und hantierte mit dem Riechsalz. »Wenn du Geld brauchst, tu,
was andere Gentlemen tun«, sagte er, während er Mutters Kopf zärtlich vom
Kissen hob, auf das sie ihn vorsorglich hatte fallen lassen. »Du wirst die
Wünsche deiner Eltern respektieren. Du wirst tun, worum wir dich gebeten haben,
und nach Schottland gehen. Du wirst endlich mal Verantwortung übernehmen.
Zurück nach Ägypten gehst du nur über meine Leiche!«
Lisle kam dann doch nicht mehr zum Essen.
Am frühen Abend erhielt Olivia eine Nachricht von ihm:
Wenn ich
heute zum Dinner kommen wollte, müsste ich über Leichen gehen. Also lasse ich
es lieber bleiben. Wahrscheinlich hast du auch so schon genug Ärger.
L.
Sie
schrieb zurück:
Es ist
nicht sicher zu
Schreiben. Treffen morgen Hyde Park Corner. Zehn Uhr früh. LASS MICH NICHT IM
STICH.
O.
Hyde Park,
am folgenden Morgen
Vor ein paar Jahren noch konnte man
darauf zählen, dass Londons distinguierteste Gentlemen sich jeden Morgen im
Hyde Park ergehen und das Grün abermals zur fashionablen Stunde, zwischen fünf
und sieben Uhr abends, aufsuchen würden. Dieser Tage war ein morgendlicher
Spaziergang nicht nur unfashionabel, sondern geradezu vulgär .
Weshalb es
die perfekte Zeit für ein Heimliches Rendezvous war, wie Olivia in einer ihrer
Botschaften geschrieben hätte.
Natürlich
kam sie zu spät, und Lisle hatte noch nie gern gewartet. Doch er vergaß seine
Ungeduld, sowie er sie erblickte, eine riesige hellblaue Feder auf dem Hut, die
wippte und wehte wie ein Schlachtenbanner. Dazu trug sie ein Reitkleid
militärischen Zuschnitts in einem kräftigen Blauton, der zu ihren Augen passte.
Die
tiefstehende Morgensonne schien auf ein paar Locken, die Hut und Haarnadeln
entkommen waren, und ließ sie wie Granate funkeln.
Als sie bei
ihm angelangt war, rang er noch immer nach Atem.
»Du ahnst
ja nicht, wie schwer es war, Bailey loszuwerden«, sagte sie. »Man sollte
meinen, sie wäre froh, entschuldigt zu sein, denn sie hasst es, in der Stadt zu
reiten, aber nein – sie wollte unbedingt mitkommen. Mit Müh und Not konnte ich
sie davon überzeugen, dass es viel wichtiger wäre, dass sie zu Hause bliebe und allen Argwohn zerstreut . Weshalb ich mich genötigt sah, einen
Stallburschen mitzunehmen.« Mit befiedertem Kopf deutete sie auf den jungen
livrierten Burschen, der sich in taktvoller Entfernung hielt. »Nicht dass wir
beide etwas zu verbergen hätten, aber die ganze Familie grollt mir, dass ich
dich zu dieser Prügelei mit Belder verleitet habe.«
»Dazu habe
ich mich selbst verleitet«, sagte er.
»Dein Auge
sieht schlimm aus«, fand sie und beugte sich vor, um es eingehend zu
betrachten.
»Sieht
schlimmer aus, als es ist«, sagte er rasch. »Nichols versteht es, solche
Blessuren zu behandeln.« Ansonsten wäre sein Auge heute wohl zugeschwollen. »Im
Laufe der nächsten Tage wird es recht
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