Loretta Chase
»Zugbrücke und Fallgatter wären romantischer gewesen«, sagte sie, als
sie die unromantische Freitreppe hinaufging.
»Könnte ein
echtes Burgverlies es wieder wettmachen?«, fragte er. »Unter dem Nordturm gibt
es eines. Finster, feucht und schaurig.«
»Wer weiß,
wozu man es noch brauchen kann«, meinte sie.
»Derzeit
ist er außer Betrieb«, sagte er. »Außer dem Brunnenraum befinden sich alle
Kellerräume in ruinösem Zustand. Eine der Treppen, die vom Hauptgeschoss nach
unten führt, ist fast ganz zerstört worden. Aber nach einer ersten
Bestandsaufnahme scheint dies auch schon das schlimmste Ausmaß an Verwüstung zu
sein.«
Oben
angelangt, wurde die Tür von einem Bediensteten geöffnet, und Olivia trat in
einen schmalen Gang, der in den großen Hauptsaal führte. Dort blieb sie wie
angewurzelt stehen und sah sich staunend um.
»Mir ging
es genauso«, bemerkte Lisle hinter ihr. »Wenn man meine Eltern so gehört hat,
hätte man meinen können, dass Bäume in den Kaminen wachsen und Vögel auf der
Empore nisten würden.«
Natürlich
hatte sie sich schon gedacht, dass seine Eltern übertrieben hatten. Sie
übertrieben immer alles. Sie konnten gar nicht anders. Dennoch – das hatte
sie nicht erwartet.
Säle wie
diesen hatte sie schon einige gesehen. Doch die meisten waren reich möbliert
und boten allen modernen Komfort. Man sah ihnen ihren mittelalterlichen
Ursprung nicht mehr an.
Ganz anders
hier. Hoch oben spannte sich eine Kreuzgewölbedecke. Am gegenüberliegenden Ende
des weiträumigen Saals brannte ein Feuer in einem riesigen, mannshohen Kamin.
Zu beiden Seiten standen in geräumigen Wandnischen Kerzen in Eisenleuchtern.
Es war ein
prächtiger Raum. Obwohl fast leer, schien ihr alles so, wie es wohl vor Jahrhunderten
gewesen war, als Maria Stuart hier zu Besuch weilte.
So, dachte
sie, musste Lisle sich gefühlt haben, als er zum ersten Mal in einem antiken
Tempel gestanden hatte: als wäre man in eine andere, längst vergangene Welt
getreten.
Wie von
fern nahm sie die Dienstboten wahr, die geschäftig in den Saal huschten, sich
nebeneinander aufreihten, abwarteten, und Olivia war sich undeutlich bewusst,
dass sie nun Anweisungen hätte geben müssen, doch war sie gerade viel zu sehr
von ihrer neuen Umgebung fasziniert, als sich um derlei Alltäglichkeiten
kümmern zu wollen.
»Der Saal
misst fünfundfünfzig Fuß in der Länge und fünfundzwanzig Fuß in der Breite«,
begann Lisle hinter ihr zu dozieren. »Dreißig Fuß vom Boden bis zum höchsten
Punkt des Deckengewölbes. Die Empore scheint im letzten Jahrhundert erneuert
worden zu sein. Darunter befand sich früher ein vertäfelter Gang. Ich bin noch
unschlüssig, ob wir ihn wiederherstellen sollen.«
Sie drehte
sich zu ihm um. »Ich finde es herrlich«, sagte sie.
»Freut
mich, dass es dir gefällt«, meinte er. »Ich hoffe, du kannst diese Herrlichkeit
auch den Dienstboten vermitteln. Sie wirken etwas verzagt.«
»Das werde
ich«, versicherte sie ihm eifrig. Und sie wusste auch schon ganz genau, was zu
tun war. Deshalb war sie ja hergekommen. Um eine Burg in altem Glanz aufblühen
zu lassen und ein Dorf zu neuem Leben zu erwecken. Um etwas Sinnvolles zu
tun.
Und so
wandte sie sich den tadellos in Reih und Glied stehenden Dienstboten zu, die in
der Tat nicht gerade glücklich wirkten. Seltsamerweise schienen jene, die schon
einige Tage hier waren, nicht minder verzagt als jene, die eben erst
eingetroffen waren. Wahrscheinlich hatte Lisle sein Bestes gegeben, sie bei
Laune zu halten, doch durfte man nicht vergessen, dass es Londoner Dienstboten
waren. Gorewood musste ihnen vorkommen, als wären sie im Mittelalter gelandet.
Olivia
straffte die Schultern – nicht sichtlich, doch im Geiste. Nichts leichter als
das, sagte sie sich. Sie würde es schon schaffen, und je eher sie sich an die
Arbeit machte, desto eher wäre es geschafft.
Dann könnte
er zurückkehren zu seiner einzig wahren Liebe und sie ... Himmelherrgott, sie
war schließlich erst zweiundzwanzig! Da sollte noch reichlich Zeit bleiben, ihre einzig wahre Liebe zu finden.
Die
Aussichten standen nicht gerade gut, aber sie hatte es schon immer verstanden,
aus schlechten Aussichten das Beste zu machen.
Man sehe
sich nur mal an, wie weit sie es gebracht hatte seit jenem Tag, an dem sie
Lisle das erste Mal begegnet war. Und jetzt war sie sogar ein richtiges
Burgfräulein, denn sie hatte auf einmal eine Burg, auf der sie schalten und
walten konnte, wie es ihr beliebte –
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