Loretta Chase
hervorragend zeichnen.«
Sie sahen
einander kurz an und lächelten, womit alles gesagt war, wie er fand. Vermutlich
dachten sie beide dasselbe: »Du kannst ja überhaupt nicht zeichnen!«,
hatte sie an jenem Tag zu ihm gesagt, da sie sich das erste Mal begegnet waren.
»Nur ein Jahrzehnt hat es gebraucht, um von 'abscheulich' zu 'hervorragend'
befördert zu werden«, stellte er fest.
Sie wandte
sich wieder der Zeichnung zu. Sein Blick folgte ihrem schlanken Finger, der
langsam die Umrisse des großen Schlafgemachs nachzeichnete.
»Es macht
doch alles gleich viel einfacher«, meinte sie.
Tat es das
wirklich? War nicht alles viel komplizierter geworden? Ihr schlanker, anmutiger
Finger, ihre feingliedrige Hand, ihre Haut, die im schummrig schimmernden Licht
zu glühen schien, das Lächeln über eine gemeinsame Erinnerung.
Er wich
einen Schritt zurück – ehe er noch in Versuchung geriet, sie zu berühren. »Es
dürfte es uns erleichtern, bei der Renovierung Prioritäten zu setzen«, sagte
er. »Falls es uns jemals gelingen sollte, hier die nötigen Arbeiter
aufzutreiben, weiß ich zumindest schon, wo wir anfangen und was getan werden
soll.«
»Deshalb
warst du heute im Dorf«, überlegte sie laut.
»Was
herzlich wenig gebracht hat«, sagte er.
»Nicht zu
fassen, dass du bei den Dorfbewohnern keinen Erfolg hattest«, meinte sie. »Wo
du doch in Ägypten ganze Trupps von Arbeitern verpflichtest.«
»Das kann
man nicht vergleichen«, sagte er. »Dort kann ich mich zumindest verständigen
und ich kenne die Mentalität der Menschen. Die Schotten sind mir fremd. Zudem
habe ich den Verdacht, dass die Einwohner von Gorewood sich dümmer stellen, als
sie sind. Jede Wette, dass sie absichtlich einen solchen Kauderwelsch sprechen,
damit ich nur ja kein Wort verstehe.«
»Sehr
mysteriös«, fand sie. »Wir müssen der Sache auf den Grund gehen. Sie scheinen
ein Problem mit Gorewood Castle zu haben. Du bist der Sohn des Burgherrn. Da
sollte man eigentlich meinen, dass sie dir ihre Sorgen und Nöte anvertrauen
würden.«
»Vielleicht
wirke ich ja nicht besonders vertrauenswürdig.«
»Unsinn«,
tat sie seinen Einwand ab. »Du musst dich einfach nur zeigen und ihr Vertrauen wecken .
Aber immer schön der Reihe nach. Erst sollten wir uns der Dienstboten
annehmen.«
»Ja, tut
mir leid«, sagte er zerknirscht. »Ich hatte nicht vor, den Butler gleich am
ersten Tag zu verlieren.«
Sie wandte
sich von den Zeichnungen ab und widmete ihm nun ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.
»Edwards«,
sagte sie. »Danach wollte ich dich ohnehin fragen, aber Gorewood Castle hat
mich so überwältigt, dass ich alles andere vergaß. Doch als ich eben die
Dienstboten sah, wirkten sie alle so ... so ...«
»Am Boden
zerstört«, schloss er. »Und wer könnte es ihnen verdenken? Wie einst ihre
Vorfahren mussten sie hier im Saal auf dem Boden campieren. Ein Wunder, dass
nicht längst alle Reißaus genommen haben.«
Ihre blauen
Augen blitzten auf. »Du meinst, Edwards ist weggelaufen?«
»So hat es
den Ansch...«
Ein wilder
Schrei, gefolgt von ohrenbetäubendem Krachen, ließ ihn verstummen. Die Tür zum
Küchenkorridor wurde aufgerissen, und das spärliche Küchenpersonal hastete
sichtlich verstört in den großen Saal.
Das wilde Gebrüll – es war menschlicher
Natur – hielt indes an.
Fassungslos
blickte Olivia auf das Küchenmädchen, das sich leise schluchzend unter der
Empore verkrochen hatte, dann auf die Tür zum Küchenkorridor, dann auf Lisle.
»Das muss Aillier sein«, meinte er. Aillier war der französische Koch, den sie
Mama entwendet hatte, damit er sie auf Gorewood verköstigte. »Er war die
letzten Tage schon etwas gereizt.«
»Gereizt?«,
wiederholte sie ungläubig.
»Wir haben
seit unserer Ankunft von kaltem Braten und Käse gelebt«, sagte Lisle. »Er backt
kein Brot und weigert sich zu kochen. Der Ofen sei eine Schande, sagt er. Ich
würde ihn gern aus dem Fenster werfen, aber er passt nicht durch, sie sind zu
schmal. Was vielleicht gut so ist, denn sonst hätten wir binnen weniger Tage
nicht nur den Butler, sondern auch den Koch verloren.«
Olivia
reckte das Kinn. »Das wollen wir doch mal sehen, ob er nicht durchs Fenster passt«,
sagte sie im selben ungnädigen Ton, den Lady Hargate angeschlagen hätte. »Kein
Brot zu backen, wo gibt es denn so was? Kein Wunder, dass alle so demoralisiert
sind.«
Erhobenen
Hauptes und mit funkelnden Augen rauschte sie gen Küche.
Nichols,
der sich mit einem der verschreckten
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