Loretta Chase
Stück
Papier wollte Lisle nicht aus dem Sinn. Immer, wenn er gerade einschlafen
wollte, flatterte es wieder in seine Gedanken.
Er sah die
krummen und schiefen Linien vor sich, die winzigen Zeichen in den kleinen
Kästchen.
Vielleicht
war es ja doch eine Karte?
Oder eine
Geheimschrift?
Sein
rastloser Verstand fing an, die Zeichen und Linien zueinander in Beziehung zu
setzen, und nun war es mit dem Schlafen endgültig vorbei, denn er dachte
nach . Lisle setzte sich auf, zündete eine Kerze an und fluchte leise.
Olivia
hatte ihm nur einmal damit vor dem Gesicht herumgewedelt, und nun wollte dieser
unselige Zettel ihm nicht mehr aus dem Sinn.
Er stand
auf, zog seinen Morgenmantel über und schürte das Feuer. Dann nahm er seine
Kerze und ging zu seinem Arbeitsplatz am großen Erkerfenster hinüber. Vor
langer Zeit schon war hier ein Fenstersitz eingebaut worden, und Lisle hatte
noch eine Sitzbank dazugestellt, die ihm als Tisch diente.
Bei Tage
war das Licht hinreichend zum Arbeiten. Bei Nacht war es geradezu anheimelnd.
Wenn es nicht regnete oder der Himmel wolkenverhangen war – was indes selten
genug vorkam –, hatte er einen herrlichen Blick auf den Sternenhimmel. Kein
Vergleich zwar zum Himmel über Ägypten, aber immerhin bekam man eine Ahnung
davon, fern der Zivilisation und all ihren Regeln und Widrigkeiten zu sein. Er
blickte zum Fenster hinaus. Alles finster. Es regnete. Mal wieder.
»Elendiger
Ort«, fluchte er.
Olivia
brauchte einen Moment, ehe sie wieder etwas sehen konnte. Dann blitzte die
Laterne noch einmal auf, schien jedoch nicht in ihre Richtung. Sie hörte es
scheppern, hörte Stimmen. Etwas fiel laut zu Boden. Schließlich Schritte, die
schnell davonrannten.
Da brauchte
sie nicht lange nachzudenken.
Sie warf
die Decke beiseite und rannte ihnen hinterher, immer dem Schein der Laterne
nach, der irrlichternd durch den Hof hüpfte und durch einen breiten Mauerspalt
hinaus auf die Straße verschwand.
Sie merkte,
wie der Regen immer stärker wurde und die Kälte ihr bis zu den Knochen kroch,
aber die Laterne blitzte im Dunkel auf wie ein Glühwürmchen und ihr Licht
schien sie magisch anzuziehen, immer weiter die Straße hinab. Dann plötzlich
war es verschwunden. Weit und breit kein Licht mehr.
Nichts. Nur
Dunkelheit. Und Regen. Eisiger Regen, der ihr auf Kopf und Schultern prasselte,
ihren Hals hinab und in den Kragen ihres Umhangs rann.
Sie schaute
zurück. Die Burg war kaum noch zu erkennen. Ein dunkel verschwommener Umriss
hinter einer dichten Regenwand, die ihr durch Wolle und Flanell drang und sie
bis auf die Haut durchnässte.
Kein Licht
in den Fenstern. Kein einziges.
Von dort
war keine Hilfe zu erwarten.
Nichts, wo
sie sich unterstellen könnte – und was würde es jetzt noch bringen? Ihre Handschuhe
trieften vor Nässe, und ihre Finger schmerzten vor Kälte.
Sie
versuchte zu rennen, doch ihre Füße waren wie Eisklötze und ihre Kleider schwer
vom Regen, und wenn sie jetzt stolperte und hinfiele ...
Nur
keine Panik.
Nicht
immer alles dramatisieren.
Beweg
dich. Einen Fuß vor den anderen setzen.
Sie biss
die Zähne zusammen, zog den Kopf zwischen die Schultern und machte sich auf den
Weg.
Die Tür zu Lisles Gemächern im Nordturm
war massiv und schwer. Wäre nicht der breite Spalt an der Angel gewesen – noch
etwas, das es auf die Liste der Reparaturen zu setzen galt –, würde er das
Geräusch nicht gehört haben. So meinte er, etwas gehört zu haben, war sich aber
nicht sicher. Er ging zur Tür, öffnete sie einen Spalt und lauschte.
Er hörte
leises Scharren, undeutliches Murmeln.
Dann ein
Fluchen. Obwohl es kaum zu vernehmen war, wusste er sofort, wer da sein Unwesen
trieb.
Er nahm
seine Kerze, verließ sein Zimmer und betrat den oberen Saal – einen
weitläufigen, völlig leeren Raum, der direkt über dem großen Saal gelegen und
von denselben Ausmaßen war, wenngleich keine so hohe Gewölbedecke hatte.
Allerdings gab es auch hier einen riesigen, mannshohen Kamin.
Vor dem
Olivia nun kniete. Sie zitterte am ganzen Leib und mühte sich vergeblich, mit einer
Zunderbüchse Funken zu schlagen.
Plötzlich
schaute sie auf und starrte blinzelnd ins Licht seiner Kerze.
»Lisle?«,
flüsterte sie.
Er sah sie
sich an: tropfnasses Haar, triefnasse Kleider, um sie her auf dem Boden eine
große Wasserlache.
»Was ist
denn mit dir passiert?«, fragte er fassungslos. »Olivia, was hast du getan?«
»Oh, L...Lisle«, stammelte sie, schlotternd vor Kälte.
Er
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