Loretta Chase
über alle Besitzansprüche Buch geführt.
Tagebuch hatte er ebenfalls geschrieben, und auch darin – soweit sie es
entziffern konnte – ging es hauptsächlich um Gorewood Castle und dessen Geschichte.
Hin und wieder schien er seinem Ärger wegen irgendeiner die Burg betreffenden
Angelegenheit Luft zu machen. Aber sicher war sie sich nicht, denn was er
dereinst in seiner winzigen, krakeligen Schrift geschrieben hatte, war kaum
noch auszumachen.
Ihr kam der
Gedanke, dass Lisle vielleicht weniger Schwierigkeiten damit hätte. Schließlich
war er es gewohnt, kryptische Inschriften zu entziffern, an denen zudem noch
der Zahn der Zeit und des Vandalismus genagt hatte. Vielleicht sollte sie ihn
fragen, ob er nicht doch ein wenig Zeit dafür erübrigen könnte.
Und dann,
am Montag, blätterte sie ganz arglos eine weitere Seite um, noch immer mit sich
ringend, ob sie Lisle nun um Hilfe bitten sollte oder nicht, als ein Stück
vergilbtes, leicht angesengtes Papier herausfiel.
»Sieh
mal, ich bin auf eine
Spur gestoßen!«, rief Olivia und wedelte mit einem zerknitterten und
vergilbten Stück Papiers vor Lisles Gesicht herum.
Widerwillig
nahm er es entgegen.
Sein Plan
hatte so gut funktioniert. Er machte seine Arbeit und sie machte ihre. Bei den
Mahlzeiten kreuzten sich ihre Wege, doch dann waren auch die alten Damen
zugegen, die stets für ausreichend Ablenkung sorgten.
Heute
jedoch hatte Olivia ihn im Brunnenraum gestellt, während die Arbeiter draußen
Mittagspause machten. Da stand sie nun und hüpfte vor Aufregung praktisch auf
und ab, weil sie eine SPUR gefunden hatte.
Sie sollte
keine Spuren finden. Sie sollte suchen, suchen, suchen, bis er mit seiner
Arbeit fertig und Olivia betreffend wieder zur Vernunft gekommen war oder –
sollte sich das als unmöglich erweisen – zumindest wusste, wie er mit dem
Problem verfahren wollte.
»Was steht
da?«, fragte sie.
Er
betrachtete die krummen Striche und Linien, hier und da ein schiefer Kringel,
ein paar undefinierbare Zeichen. »Eigentlich gar nichts«, sagte er. »Sieht aus
wie eine Kinderzeichnung. Vielleicht eines von Cousin Fredericks frühen Werken.
Meine Mutter hat auch alles aufgehoben, was ich als Kind gemalt habe. Derlei
Kritzeleien zu bewahren ist ganz offensichtlich kein Akt der Vernunft, sondern
des Sentiments.«
»Bist du ganz sicher?«, beharrte sie.
»Es ist
keine Schatzkarte«, sagte er und gab ihr den Zettel zurück.
»Vielleicht
ist es ja eine verschlüsselte Botschaft.«
»Da gibt es
nichts zu entschlüsseln«, winkte er ab.
»Aber
hier«, sagte sie und zeigte auf die komischen Zeichen. »Hier, in den kleinen
Kästchen!«
Schweigend
schaute er den Zettel an, dann sie.
Auf dem Weg
in den Brunnenraum musste sie mit ihrem ausladenden Kleid sämtliche Spinnweben
von den Wänden gestreift haben. Anscheinend hatte sie sich beim Versuch, die
geheime Botschaft zu entziffern, auch ziemlich das Haar gerauft, denn aufgeregt
wippende Haarnadeln hingen aus ihren zerzausten Locken herab. Ihre blauen Augen
funkelten, ihre Wangen waren gerötet.
Oh, er war
es so leid! Er war dieses grässliche Gemäuer leid und das grässliche Wetter,
und er war es leid, immer tiefere Löcher zu schaufeln, in denen er seine
Gefühle vergraben konnte – nur um mit anzusehen, wie sie wieder hervorgekrochen
kamen, sich herauswanden wie Schlangen und ihre Giftzähne in ihn gruben. Warum
war er überhaupt nach England zurückgekehrt?
Er wusste
doch, dass es ihm nicht bekam, in ihrer Nähe zu sein.
Aber
eigentlich war er ja wegen der Carsingtons gekommen. Weshalb sollte er sich von
der einzigen Familie fernhalten müssen, die ihm jemals etwas bedeutet hatte, nur weil
ein Mitglied dieser Familie ihn um Sinn und Verstand brachte? Das war wirklich
nicht fair.
»Das hat
nichts weiter zu bedeuten«, sagte er. »Irgendein Zettel, wie alte Leute sie
zuhauf herumliegen haben.«
Die Röte
ihrer Wangen vertiefte sich und kroch langsam ihren Hals hinab. Ein Warnsignal.
»Er war
niemand, der einfach so Zettel herumliegen ließ«, sagte sie. »Wenn du dir mal
seine Tagebücher ansehen würdest, wüsstest du das. Er hält Ordnung bis ins
kleinste Detail. Wenn er diesen alten Zettel aufbewahrt hat, dann aus gutem
Grund.«
»Gründe gibt es immer«, meinte Lisle. »Senilität könnte einer sein.«
Ihre blauen
Augen blitzten. »Du hast gesagt, ich soll mich an die Lösung des Rätsels
machen«, sagte sie. »Also habe ich nach Spuren gesucht, um der Sache auf den
Grund zu gehen. Ich
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