Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
sie nach. »So ein Quatsch, oder, Lotta?«
»Aaaah.«
Ben klettert, Lotta spielt mit ihrer Blume, ich könnte jetzt Zeitung lesen. Der perfekte Tag.
Vor uns sitzt ein Mädchen, um die zwei Jahre alt, mit einem Bagger im Sand und wendet die Augen nicht von uns. Ich grinse ihr zu. Sie mustert uns. »Na, du bist ja neugierig!« Sie streckt das Kinn vor und schaut weiter. Ich verstecke mein Gesicht hinter den Händen und blinzele dahinter hervor. Konzentrierter Blick, kein Lachen. Ich sage: »Wer zuerst wegguckt, hat verloren?«
»Entschuldigung«, sagt der Vater neben mir auf der Bank. »Das tut mir leid.«
»Was denn?«
»Ich glaube, meine Tochter hat ein wenig Angst, die hat so was noch nie gesehen.«
So was. So was ist wohl Lotta. Ich schaue zu dem Mädchen mit dem Bagger. »Wie heißt du denn?«
»Stella«, sagt ihr Vater.
»Stella, das ist Lotta. Lotta – Stella«, stelle ich die beiden vor. »Du kannst mich alles fragen, was du willst.« Das Mädchen schaut weiter. »Hast du Angst?« Sie schüttelt den Kopf.
Ben kommt vom Klettergerüst herunter. »Mama, ich will nach Hause.«
Ich auch. Wir gehen. »Tschüs, Lotta«, sagt Stella leise.
»Das ist der Grund, warum ich nicht mehr auf Spielplätze gehe«, sagt Nina am Telefon. »Und warum ich lieber in einem heilpädagogischen Kindergarten wäre.«
»Du kannst Leon doch nicht ewig von der Welt fernhalten.«
»Der merkt noch früh genug, dass er anders ist. Der darf ruhig noch ein bisschen in Ruhe spielen, ohne dauernd angestarrt zu werden. Verdirbt dir so ein Erlebnis nicht den Tag?«
Wie soll Inklusion funktionieren, wenn die einen denken, dass ihre Kinder Angst haben, und die anderen nicht angestarrt werden wollen? Oder ist es gerade deswegen wichtig, dass Inklusion erfolgreich umgesetzt wird? Damit irgendwann weniger Menschen sagen: »Mein Kind hat so was noch nie gesehen?« Damit ich irgendwann einen perfekten Tag auf einem Spielplatz haben kann?
Wir haben ein neues Auto. In das alte passte der Reha-Buggy nur, wenn man ihn komplett auseinandernahm. Wir hätten einen dieser Lieferwagen kaufen können, ein Auto wie einen Rollstuhl. Harry hat sich geweigert. Das neue Auto ist kein Landrover, aber auf dem Parkplatz vor dem Sportverein werden wir trotzdem nicht weiter auffallen. Blonde Frau, zwei Kinder, viel zu großes Auto. »Fehlt nur noch der Golden Retriever«, sagt Harry.
»Vergiss es«, sage ich. »Höchstens einen, der speziell für Blinde und Epilepsiekranke ausgebildet ist. Das gibt es. Die schlagen bei Anfällen Alarm.«
Ich steige in das Auto wie in ein Klischee. Es hält nur so lange, wie es dauert, den Behindertenparkausweis hinter der Frontscheibe zu erkennen.
Mit Lotta und Ben in den Supermarkt. Die Einfahrt zum Parkhaus ist eng. Ich rangiere vor, zurück, vor, zurück. Piep, piep, piep, piiiiiieeep. »Warum fährst du nicht?«, fragt Ben von der Rückbank.
»Lass mich mal.« Vor, zurück, piiiiiieeeep. Hinter uns hupt es.
»Dahinten stehen schon Autos, Mama!« Pieeep. »Nun, fahr doch, Mama.«
Bin ich Ben gerade das erste Mal peinlich? In welchem Alter beginnt das Genieren? Wird er sich eines Tages für Lotta schämen? Piiieeep.
Als ich Lotta aus dem Kindergarten abhole, legt Zora im Flur ihren Finger vor den Mund. »Komm mal ganz leise mit«, sagt sie. »Vielleicht bemerkt Lotta dich nicht ...« Sie öffnet die Tür zum Gruppenraum der Finken. Lotta liegt auf ihrem roten Sitzsack, daneben Ida. Sie liegen Nase and Nase. »Lolla«, sagt Ida.
»Oi«, sagt Lotta. Lotta hat den Mund offen, Ida reißt ihren ebenfalls auf und presst ihre Lippen an Lottas. Sie legt den Arm um ihren Hals. Lotta strampelt aufgeregt mit einem Bein.
»Lolla.«
»Oi.«
Sechs Wochen nichts vom Sozialamt. »Ich bin sowieso morgen in dem Gebäude«, sagt Zora. »Ich frage mal nach.« Am nächsten Morgen ruft sie mich an: »Die haben den Antrag nicht gekriegt.«
»Wie?«
»Die sagen, sie hätten keine Akte.« Zora hat den Antrag in Kopie von mir. »Ich habe ihn jetzt persönlich überreicht«, sagt sie. »Und ich habe mich noch mal umgehört: Wir sollten auch dem LVR einen Antrag auf Einzelintegration schicken.«
Der LVR ist der Landschaftsverband Rheinland. Ich beantrage eine »Einzelintegration in den Regelkindergarten«, das ist eine Fördermaßnahme: 5000 Euro einmal pro Jahr, mit denen Zora zusätzliche Personalstunden für Lotta finanzieren kann. Wir haben nun zwei Anträge laufen: einen beim Sozialamt auf einen Integrationshelfer, der Lotta in
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