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Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann , Werner Frizen
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Mund. Humboldt, Berliner Luft atmend, hatte im Grunde schon seit Frühjahr erwartet, daß, wie der junge Körner, so auch die Söhne Schillers und Goethens für die deutsche Sache zum Schwerte greifen würden. Jetzt forschte er nach des alten Freundes Gesinnung, nach Augusts Entschlüssen, – um düsteren Gleichmut bei diesem, bei jenem verdrießlich tadelnden Unglauben an das zu finden, was alle so groß, so herrlich dünkte. ›Befreiung?‹ hörte er bitter fragen. Das sei eine Befreiung zum Untergehen. Das Heilmittel sei schlimmer als die Krankheit. Na {191} poléon besiegt – er sei es noch nicht, noch lange nicht. Er sei zwar wie ein gehetzter Hirsch, aber das mache ihm Spaß, und noch immer könne es sein, daß er die Meute zu Boden werfe. Gesetzt aber, er unterliege – was dann? Sei wirklich das Volk erwacht und wisse es, was es wolle? Ja, wisse irgend jemand, was werden solle nach des Gewaltigen Fall? Die russische Weltherrschaft statt der fränkischen? Kosaken in Weimar – es sei unter allem nicht eben das, was er, der Meister, hätte wünschen wollen. Ob ihre Taten wohl lieblicher seien, als die der Franzosen? Wir würden ja von unseren Freunden nicht minder gebrandschatzt, als vordem vom Feinde. Selbst unsern Soldaten raube man die mühsam beschafften Transporte, und unsere Verwundeten auf dem Schlachtfeld würden von ihren Verbündeten ausgeplündert. Das sei die Wahrheit, die man mit sentimentalen Fiktionen beschönigen wolle. Das Volk, seine Dichter einbegriffen, die sich mit Politik ruinierten, befinde sich in einem Zustande widerlicher und völlig unanständiger Erhitzung. Kurzum, es sei ein Graus.
    Ein Graus, meine Teuerste, war es wirklich. Das war ja eben das Schlimme, das für den Enthusiasmus Beschämende, daß das Entsetzen des Meisters alles stündlich-unmittelbare Erleben, die Sinnlichkeit der Dinge für sich hatte. Es ist wahr: der Rückzug der Franzosen und ihre Verfolgung zeitigten die gräßlichste Zerstörung und Aussaugung. Unsere Stadt, darin ein preußischer Landwehr-Oberst, ein rechter Eisenfresser, dazu noch ein russischer und ein oesterreichischer Etappenkommandant das Regiment führten, war ständig von Truppen verschiedener Völker, durchziehenden und eingelagerten, bedrückt. Vom eingeschlossenen Erfurt her strömten die Blessierten, Verstümmelten, an Ruhr und Nervenfieber Erkrankten in unsere Lazarette, und nicht lange, so griffen die Kriegsseuchen unter der Einwohnerschaft um sich. Im November hatten wir fünfhundert Typhuskranke – bei einer Population von 6000 {192} Seelen. Es gab keine Aerzte – all unsre Doktors hatten sich auch gelegt. Schriftsteller Johannes Falk verlor vier Kinder in einem Monat, sein Haar erbleichte. In manchem Haus kam nicht eine Seele davon. Der Schrecken, die Angst vor Ansteckung drückten alles Leben zu Boden. Eine Räucherung von weißem Pech ging zweimal täglich durch die Stadt; Totenkorb aber und Leichenwagen blieben desungeachtet in schauerlicher Tätigkeit. Zahlreiche Selbstmorde, verursacht durch Nahrungssorgen, ereigneten sich.
    Das war das äußere Bild der Dinge, die Wirklichkeit, wenn Sie wollen, und wer nicht vermochte, sich über sie zu den Ideen der Freiheit und des Vaterlandes zu erheben, war übel daran. Manche vermochten es doch: die Professoren Luden und Passow voran; mit ihnen Ottilie. Daß unser Dichterfürst es nicht vermochte oder ablehnte es zu tun, war unter all unsern Kümmernissen vielleicht das bitterste. Wie er sich stellte, erfuhren wir von seinem Sohne nur zu genau, – er war ja nichts als des Vaters Echo, und wenn dieser kindlich genaue Anschluß an die väterliche Gesinnung sein Rührendes hatte, so lag doch auch etwas Unnatürliches darin, das uns noch über den Schmerz hinaus beklemmte, welchen seine Worte selbst uns verursachten. Gesenkten Hauptes, nur manchmal den Blick, dessen Bläue in Thränen schimmerte, zu ihm erhebend, nahm Ottilie es hin, wenn er schneidend von sich aus all das wiederholte, was sein Erzeuger zu Humboldt und anderen über der Zeiten Jammer und Irrtum geäußert. Auch über ihre Absurdität und Lächerlichkeit. Denn es ist wahr, wenn man wollte, wenn man es über sich brachte, so konnte man Absurdes, konnte Lächerliches finden in dem Gebahren der aufgeregten, berauschten, von einheitlicher Leidenschaft zugleich erhobenen und geistig herabgesetzten Menschen. In Berlin gingen Fichte, Schleiermacher und Iffland bis an die Zähne bewaffnet umher und ließen ihre Säbel auf dem

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