Love
haben ihre Parkas ausgezogen und zur Seite gelegt. Unter dem Lecker-Baum ist es jetzt mehr als warm; es ist heiß, fast erstickend heiß, und Lisey denkt: Bestimmt müssen wir bald gehen. Wenn wir nicht gehen, wird der Schnee auf den Zweigen so weit schmelzen, dass er auf uns herabkracht.
12 Lisey saß mit der Speisekarte aus dem Antlers in ihrer Küche und sagte sich: Ich muss auch bald mit diesen Erin nerungen aufhören. Wenn ich nicht aufhöre, wird etwas viel Schwereres als eine Ladung Schnee auf mich herabstürzen.
Aber waren diese Erinnerungen nicht genau das, was Scott wollte? Was er geplant hatte? Und war diese Bool-Jagd nicht ihre Chance, es umzuschnallen?
Oh, aber ich hab solche Angst! Weil ich so nah dran bin.
Woran? Woran nahe dran?«
»Still«, flüsterte sie und erzitterte, als säße sie in einem kal ten Wind. In einem, der vielleicht aus Yellowknife heranzog. Aber dann, weil ihr Herz und ihr Verstand im Widerstreit lagen: »Nur noch ein kleines bisschen.«
Das ist gefährlich. Gefährlich, kleine Lisey.
Das wusste sie selber; sie konnte bereits Bruchstücke der Wahrheit durch ihren purpurroten Vorhang schimmern sehen. Leuchtend wie Augen. Sie konnte Stimmen hören, die ihr zu flüsterten, dass es gute Gründe dafür gab, nur in Spiegel zu sehen, wenn es unbedingt nötig war (vor allem nicht nach Einbruch der Dunkelheit und niemals in der Morgen- oder Abenddämmerung), gute Gründe dafür, nach Sonnenunter gang Frischobst zu meiden und zwischen Mitternacht und sechs Uhr morgens unbedingt zu fasten.
Gute Gründe dafür, die Toten ruhen zu lassen.
Aber sie wollte ihren Platz unter dem Lecker-Baum nicht verlassen. Noch nicht gleich. Wollte ihn nicht verlassen. Er hatte sich das Buchmobil gewünscht, ein für Scott sehr
typischer Wunsch, auch wenn er von einem Dreijährigen ge kommen war. Und Paul? Was war Pauls
13 »Was, Scott?«, fragt sie ihn. »Was war Pauls Wunsch?«
»Er hat gesagt: ›Ich wünsche mir, dass Daddy bei der Arbeit stirbt. Dass er einen Stromschlag kriegt und stirbt.‹« Sie sieht ihn an, stumm vor Mitleid und Entsetzen. Scott fängt plötzlich an, ihr Zeug wieder in den Rucksack
zu stopfen. »Komm, wir wollen hier raus, bevor wir geröstet werden«, sagt er. »Ich dachte, ich könnte dir viel mehr er zählen, Lisey, aber ich kann es nicht. Und sag nicht, dass ich nicht wie mein Alter bin, denn darum geht es nicht, okay? Es geht darum, dass in meiner Familie jeder irgendwie damit be lastet ist.«
»Auch Paul?«
»Ich weiß nicht, ob ich weiter über Paul reden kann.«
»Okay«, sagt sie. »Dann lass uns zurückgehen. Wir machen ein Nickerchen, dann bauen wir einen Schneemann oder was immer.«
Der zutiefst dankbare Blick, den er ihr zuwirft, macht sie verlegen, weil sie in Wirklichkeit erleichtert ist, das Thema wechseln zu können – sie hat alles aufgenommen, was sie verarbeiten kann, zumindest vorläufig. Mit einem Wort: Sie ist durchdrehreif. Aber sie kann das Thema noch nicht ganz fallen lassen, weil sie sich gut vorstellen kann, wie die rest liche Geschichte abgelaufen sein muss. Sie glaubt fast, sie für ihn zu Ende erzählen zu können. Aber zuvor hat sie noch eine Frage.
»Scott, als dein Bruder an diesem Morgen die RC -Colas ge holt hat … die Trophäen für das gute Bool …«
Er nickt lächelnd. »Das großartige Bool.«
»Mhm. Als er in dem kleinen Laden war – Mulie's –, hat sich da niemand gewundert, dass da ein Sechsjähriger rein kommt, der über und über mit Schnittwunden bedeckt ist? Selbst wenn die Schnitte verpflastert waren?«
Scott hört auf, die Schnallen des Rucksacks zu schließen, und sieht sie mit ernstem Blick an. Er lächelt weiter, aber aus seinem Gesicht ist fast alle Farbe gewichen; seine Haut sieht blass, fast wächsern aus. »Die Landons besitzen erstaunliche Wundheilkräfte«, antwortete er. »Hab ich dir das nie erzählt?«
»Doch«, bestätigt sie. »Doch, das hast du.« Und dann, ob wohl sie jetzt kurz davor ist, durchzudrehen, drängt sie ein kleines Stück weiter. »Noch sieben Jahre«, sagt sie.
»Sieben, ja.« Den Rucksack zwischen seinen Knien, sieht Scott zu ihr auf. Seine Augen fragen, wie viel sie wissen will. Wie viel sie zu wissen wagt .
»Und Paul war dreizehn, als er gestorben ist?«
»Dreizehn, ja.« Seine Stimme klingt ganz ruhig, aber nun ist auch der allerletzte Rest Farbe aus seinem Gesicht ver schwunden, obwohl sie sehen kann, dass ihm Schweißtropfen übers Gesicht laufen, dass seine Haare schon
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