Love
feucht davon sind. »Fast vierzehn.«
»Und dein Vater, hat er ihn mit dem Messer umgebracht?«
»Nein«, sagt Scott mit unverändert ruhiger Stimme, »mit seinem Gewehr. Mit seinem .30-.06. Unten im Keller. Aber es war nicht, wie du denkst, Lisey.«
Nicht im Zorn, das will er Lisey ihrer Meinung nach be greiflich machen. Nicht blindwütig, sondern kaltblütig. Das ist es, was sie unter dem Lecker-Baum denkt, als das dritte Kapitel des Berichts ihres Verlobten für sie noch unter dem Titel Die Ermordung des heiligmäßigen älteren Bruders steht.
14 Still, Lisey, still, kleine Lisey, ermahnte sie sich in ihrer Küche – inzwischen sehr verängstigt, und das weniger, weil sie sich in Bezug auf Paul Landons Tod so gewaltig getäuscht hat te. Sondern weil sie erkannte – zu spät, zu spät –, dass Gesche henes sich nicht mehr ungeschehen machen lässt und man mit seinen Erinnerungen sein Leben lang zurechtkommen muss.
Auch wenn die Erinnerungen verrückt waren.
»Ich muss mich an nichts erinnern«, sagte sie und bog die Speisekarte in ihren Händen rasch hin und her. »Ich muss nicht, ich muss nicht, ich muss die Toten nicht in ihrer Ruhe stören, solch verrückter Schiet passiert nicht, es
15 »Es war nicht, wie du denkst.«
Sie wird dennoch denken, was sie will; natürlich liebt sie Scott, aber sie ist nicht ans Rad seiner schrecklichen Vergan genheit gefesselt und kann denken, was sie will. Und sie wird wissen, was sie weiß.
»Und du warst dabei, als es passiert ist? Als dein Vater ihn …?«
»Ja.«
Erst zehn Jahre alt, als sein Vater den angebeteten älteren Bruder umgebracht hat. Als sein Vater den angebeteten älte ren Bruder ermordet hat. Und das vierte Kapitel dieser Ge schichte hat seine eigene grausige Unvermeidbarkeit, ist es nicht so? Daran zweifelt Lisey nicht im Geringsten. Sie weiß, was sie weiß. Die Tatsache, dass Scott erst zehn war, ändert daran nichts. Schließlich war er auf anderen Gebieten ein Wunderkind.
»Und hast du ihn umgebracht, Scott? Hast du deinen Vater umgebracht? Das hast du getan, war’s nicht so?«
Er hält den Kopf gesenkt. Die herabhängenden Haare ver bergen sein Gesicht. Im nächsten Moment ist hinter diesem dunklen Vorhang ein einzelnes trockenes, bellendes Schluch zen zu hören. Danach folgt Schweigen, aber sie kann sehen, wie seine Brust sich hebt und senkt, als kämpfte sie darum, sich endlich zu öffnen. Dann:
»Ich hab ihm mit einer Spitzhacke den Schädel eingeschla gen, als er geschlafen hat, und ihn dann in den trockenen alten Brunnen geworfen. Das war im März bei dem schlim men Schneeregen. Ich hab ihn an den Füßen rausgeschleppt. Ich wollt ihn begraben, wo Paul war, aber ich konnt es nicht. Habs versucht, habs versucht, habs versucht, aber konnt ihn nicht reinkriegn, Lisey. Er war wie die erste Schaufel. Also hab ich ihn in den alten Brunnen gekippt. Dort liegt er meines Wissens noch immer, aber als die Farm versteigert wurde, hab ich … ich … Lisey … ich … ich … ich hatte solche Angst …!«
Er greift blindlings nach ihr und wäre sie nicht da gewesen hätte er sich bestimmt das Gesicht zerfleischt aber sie ist da, und dann sind sie
Sie sind
Irgendwie sind sie
16 »Nein!«, fauchte Lisey. Sie warf die Speisekarte – jetzt so krampfhaft gebogen, dass sie fast eine Röhre bildete – zu rück in die Zedernholzschatulle und knallte den Deckel zu. Aber es war zu spät. Sie war zu weit gegangen. Es war zu spät, weil
17 Irgendwie sind sie wieder draußen in dem unaufhör lich fallenden Schnee. Sie hat ihn unter dem Lecker-Baum in die Arme genom men, und dann
(Boom! Bool!)
sind sie draußen im Schnee.
18 Lisey saß in ihrer Küche, vor sich auf dem Tisch die Zedernholzschatulle, und hielt die Augen geschlossen. Das durchs Ostfenster einfallende Sonnenlicht drang durch ihre Lider und erzeugte einen dunklen Rote-Bete-Brei, der im Rhythmus ihres Herzens pulsierte – ein Rhythmus, der genau in diesem Moment viel zu schnell war.
Sie dachte: Also gut, diese eine ist durchgekommen. Aber mit nur einer kann ich leben. Nur eine bringt mich nicht um.
Habs versucht, habs versucht.
Sie öffnete die Augen und sah die Schatulle aus Zedernholz an, die vor ihr auf dem Küchentisch stand. Die Schatulle, nach der sie so eifrig gesucht hatte. Und sie dachte an etwas, was Scotts Vater ihm gesagt hatte. Die Landons – und vor ih nen die Landreaus – zerfallen in zwei Typen: Gomer und Bös müllige.
Die Bösmülligen litten – unter anderem –
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