Love
anstellt? Und mit dem Pfeiler? Mit dem gottverdammten Pfeiler?
Scott sieht hin. Erst kann er kaum glauben, was er sieht, und er will natürlich nicht glauben, was er sieht. Obwohl auf dem großen Tisch eine zweihundertfünfzig Kilo schwere uralte Stratton-Druckerpresse mit Kurbelantrieb steht, ist er um min destens einen Meter aus seiner ursprünglichen Position gezo gen. Quadratische Abdrücke in der festgestampften Erde zei gen, wo er früher gestanden hat. Noch schlimmer ist die Sache mit dem Stahlpfeiler, der oben U-förmig ausläuft. Dieses weiß gestrichene Formstück umfasst den Stahlträger, der genau unter ihrem Küchentisch verläuft. Scott sieht ein kleines dunk les Dreieck an dem Träger und weiß, dass es durch eine Ver schiebung des Pfeilers entstanden ist. Er betrachtet den Stahl pfeiler und versucht, die leichte Neigung zu erkennen. Das kann er nicht, noch nicht. Aber wenn das Wesen weiter mit sei ner unmenschlichen Kraft daran reißt … tagaus, tagein …
Daddy, kann ich's noch mal versuchen?
Daddy seufzt. Scott verdreht sich den Hals, um in das ge hasste, gefürchtete, geliebte Gesicht sehen zu können.
Daddy?
Mach's meinetwegen, bis du platzt, sagt Daddy . Mach hin – und viel Glück dabei!
18 Stille in dem Büro über der Scheune, in dem es heiß und sie verletzt und ihr Mann tot war.
Stille im Gästezimmer, in dem es kalt und ihr Mann fort ist.
Stille in dem Zimmer im Antlers, in dem sie beieinander liegen, Scott und Lisey, Jetzt sind wir zwei.
Dann spricht der lebende Scott für den anderen, der 2006 tot und 1996 fort ist, und die Argumente gegen geistige Um nachtung tun mehr, als bloß wegzufallen; für Lisey Landon brechen sie endlich vollständig zusammen: alles beim Alten.
19 Außerhalb ihres Zimmers im Antlers heult der Wind, und die Wolkendecke reißt auf. Drinnen macht Scott eine Pause, um einen Schluck Wasser aus dem Glas zu trinken, das er immer auf dem Nachttisch stehen hat. Diese Unterbre chung beendet die hypnotische Regression, die ihn offenbar erneut befallen hat. Als er fortfährt, scheint er seine Geschich te zu erzählen, statt sie zu erleben, was Lisey als große Erleich terung empfindet.
»Ich hab's noch zweimal versucht«, berichtet er sachlich nüchtern. »Ich dachte immer, mit dem zweiten Mal hätte ich ihn getötet. Das dachte ich bis heute Nacht, aber darüber zu sprechen – mich selbst darüber reden zu hören – hat mir mehr geholfen, als ich je für möglich gehalten hätte. Vielleicht ha ben die Psychoanalytiker mit ihrer Idee, dass Gespräche heil sam sein können, doch nicht ganz unrecht, was?«
»Keine Ahnung.« Es ist ihr auch egal. »Hat dein Vater dir die Schuld daran gegeben?« Und sie denkt: Natürlich hat er das getan.
Aber sie scheint die Komplexität des kleinen Dreiecks, das für gewisse Zeit auf einer einsamen Hügelfarm bei Martens burg, Pennsylvania, existiert hat, erneut unterschätzt zu haben. Denn nachdem Scott einen Augenblick gezögert hat, schüttelt er den Kopf.
»Nein. Es hätte natürlich geholfen, wenn er mich in den Arm genommen hätte – wie damals nach dem ersten fehlge schlagenen Versuch – und mir versichert hätte, dass es nicht meine Schuld ist, dafür kann niemand etwas, das Bösmüllige ist eben wie Krebs oder Paralyse oder so was, aber das hat er nicht getan. Er hat mich einfach mit einem Arm weggezo gen … ich habe wie eine Marionette mit abgeschnittenen Schnüren in seinem Griff gehangen … und danach haben wir nur …« Bei heller werdendem Mondschein erklärt Scott all sein Schweigen über seine Vergangenheit mit einer einzigen erschreckenden Geste. Er legt einen Zeigefinger auf die Lip pen – der Finger gleicht einem blassen Ausrufezeichen unter seinen großen Augen – und lässt ihn kurz dort liegen: Psssst!
Lisey denkt an die Zeit, nachdem Jodi schwanger gewor den und weggegangen war, und nickt verständnisvoll. Scott wirft ihr einen dankbaren Blick zu.
»Insgesamt dreimal«, fährt er fort. »Das zweite Mal war nur drei oder vier Tage nach meinem ersten Versuch. Ich hab mir größte Mühe gegeben, aber es war genau wie beim ersten Mal. Nur konnte man inzwischen sehen, dass der Pfeiler, an dem die Ketten hingen, leicht geneigt war, und es gab einen etwas weiteren zweiten Bogen aus Scheißhaufen, weil er den Tisch näher zu sich herangezogen und sich so mehr Be wegungsfreiheit verschafft hatte. Und Daddy hatte langsam Angst, er könnte eines der Tischbeine abbrechen, obwohl auch sie aus Metall
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